Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
und eine Fünf. »Fünfundfünfzig.« Sie probierte weitere Zahlenfolgen aus. Immer wieder zog sie mit dem breiten Ende des Griffels bereits beschriftete Stellen glatt, um neuen Platz zum Schreiben zu haben.
»Das alles ist … so klug!«, rief sie begeistert aus. Es fehlte nicht viel, und sie hätte wie ein entzücktes Kind in die Hände geklatscht.
»Das bist du wirklich«, bestätigte Johann.
Doch Madlen schüttelte ungeduldig den Kopf, sie hatte nicht von sich gesprochen, sondern von den Zahlen. Genauer, von den Menschen, die sie sich ausgedacht hatten.
»Damit kann man alles machen«, sagte sie voller Ehrfurcht. »Man kann Tausende und Abertausende in eine einzige Reihe schreiben!«
»Das kann man«, stimmte Johann zu. »Und alles nur dank der Null.«
»Wo hast du diese Ziffern erlernt?«, wollte sie begierig wissen.
»In Outremer.«
»Dort, wo du im Krieg warst?«
Er nickte. »Die Araber sind sehr gebildet. In manchen Belangen sind sie uns weit voraus. Früher, als Kind, habe ich bei unserem Hauslehrer die römischen Zahlen gelernt, aber im Vergleich zu den Ziffern der Araber haben sie nur eingeschränkten Nutzen.«
»Alle Kaufleute, die ich kenne, benutzen die römischen Ziffern«, meinte Madlen. Einschränkend fügte sie hinzu: »Alle, die schreiben können.«
Die anderen griffen auf selbst erdachte Zahlensymbole zurück, so ähnlich wie Madlen es bei ihren Fässern handhabte, und für die Berechnung ihrer Einnahmen, Ausgaben und Steuern verwendeten sie das Rechentuch oder -brett oder benutzten ein Gerät, das Abakus hieß.
»Die Araber haben diese Zahlen von Menschen gelernt, die noch weiter im Osten leben als sie«, erklärte Johann. »Viele Kaufleute, denen ich begegnet bin, arbeiten bereits damit. Venezianer vor allem. Ich glaube, dass diese Ziffern die römischen künftig ganz verdrängen werden, denn sie bieten viel mehr Vorteile.«
»Welche denn?«
»Man kann schnellere Berechnungen anstellen. Wenn du zum Beispiel mit einem Kaufmann handelst und dich mit ihm statt auf achtundneunzig Pfennig auf eine Summe von vierunddreißig geeinigt hast, wie rechnest du dann den Unterschied aus, also das, was du gutgemacht hast?«
»Das wäre zu viel«, widersprach Madlen. »So weit lässt sich kein Kaufmann herunterhandeln.«
Johann grinste. »Stellen wir es uns trotzdem vor.«
Sie dachte kurz nach. »Vierundsechzig.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Das hätte ich mir denken können. Du bist ein Naturtalent im Kopfrechnen. Mir hätte es schon früher auffallen sollen, bereits an jenem Tag, als wir zusammen auf den Heumarkt gefahren sind und du mit diesem Händler geschachert hast wie auf einem türkischen Basar.«
Sie merkte, wie sie rot wurde.
Sachlich fuhr er fort: »Beim nächsten Mal zeige ich dir, wie man es schriftlich ausrechnet. Wir fangen mit Additionen an.«
»Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber ich kann es kaum erwarten!« Sie strahlte ihn an.
Für einen Lidschlag spürte sie seinen Blick auf ihren Lippen, er wirkte … hungrig. Madlen merkte, dass sie viel zu dicht bei ihm saß. Sie versuchte vergeblich, das ungewohnte Flattern unter ihrem Brustbein damit abzutun, dass sie sich auf die Additionen freute, was immer diese bedeuten mochten.
Ein gebieterisches Pochen an der Haustür riss sie aus ihren wirren Gedanken. Hastig sprang sie auf. Wer kam denn noch so spät?
Dann fiel es ihr wieder ein, und augenblicklich verflog ihre gute Laune. Die Goldgräber waren da.
Hermann, der Scharfrichter, kam in die Stube stolziert, als gehörte er dorthin. »Der Meister der Nachtkarre ist da«, kündigte er sich selbst in aufgeräumtem Ton an. Milde lächelnd schaute er sich um, bevor er einen eingebildeten Fussel von seinem Umhang zupfte und sich zu Johann umdrehte.
»Gott zum Gruße, Meister Johann«, sagte er höflich. »Ich hoffe sehr, dass es Euch gut geht.«
Johann betrachtete den Henker. Das war also der Kerl, der ihn für zehn Goldstücke verhökert hatte.
»Seid gegrüßt«, gab er mit unbewegter Miene zurück. Er warf einen Blick auf die offensichtlich funkelnagelneuen Stiefel des Mannes. Auch der Umhang sah aus, als sei er keine drei Wochen alt. »Euch geht es sehr gut, wie ich sehe.«
Hermann blinzelte kurz, als müsse er überdenken, welche Antwort hier opportun sei, dann kam er zu dem Schluss, gar keine sei wohl die beste. Mit strahlender Miene wandte er sich der Hausherrin zu. »Auf der Gasse warten vier meiner besten Männer. Bis zum Morgengrauen werden sie es sicher
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