Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Madlens Mutter, die gestorben war, als Madlen zehn Jahre alt gewesen war.
»Ein schönes Tuch«, sagte Johann.
Madlen nickte nur schweigend.
Johann zog die Tafel zu sich heran und schrieb eine Ziffer. »Das ist eine Eins.« Es sah aus wie ein einfacher Strich, das war leicht.
»Weiter«, sagte sie.
Johann schob einen der Calculi auf dem Tuch zurecht. »Eins«, erläuterte er, zuerst auf die Ziffer und dann auf den kleinen Kalkstein deutend.
»Ja, ja«, sagte sie voller Ungeduld. »Ich hab’s begriffen. Bring mir die nächste Zahl bei.«
»Na gut. Hier ist die Zwei.« Johann malte eine weitere Ziffer auf die Tafel und schob einen Stein zu dem ersten.
Madlen blickte die Zahl konzentriert an, dann nickte sie. »Die nächste.«
»Die Drei.« Eine weitere Ziffer, ein neuer Stein.
Er schob ihr die Tafel hin. »Hier. Schreib sie ab, damit du ein Gefühl dafür bekommst.«
Madlen ergriff zögernd den Griffel. Ihre Hand, sonst immer so geschickt und flink im Umgang sowohl mit feinem als auch grobem Gerät, kam ihr mit einem Mal seltsam plump vor. Es machte sie wütend, dass die Ziffern, die sie abzumalen versuchte, krumm und schief gerieten und von allzu unterschiedlicher Größe waren. Dabei hatte es bei Johann so spielerisch und fließend ausgesehen. Sie war drauf und dran, den Griffel an die Wand zu werfen.
»Schreib ein paar Reihen«, schlug er vor. »Es wird immer einfacher, von Mal zu Mal.«
Sie beugte sich über die Tafel, schob angestrengt die Zunge in den Mundwinkel und tat wie geheißen. Johann hatte recht, je mehr Zahlen sie niederschrieb, umso leichter ging es ihr von der Hand.
»Jetzt die nächsten drei«, verlangte sie, bevor sie ihm die Tafel wieder zuschob.
Ehe sie sich versah, schlug die Kirchturmglocke von Sankt Aposteln zur Komplet, sie hatte bereits über eine Stunde Zahlen gelernt und geschrieben. Zwischendurch hatte sie die Läden schließen und eine Kerze entzünden müssen, weil es zum Abend hin dunkel und kühl geworden war. Bittend blickte sie Johann an. »Können wir noch die nächsten drei Ziffern machen?«
»Es ist nur noch eine übrig«, sagte er lächelnd.
Ihr Herz tat einen Satz, weil sein Lächeln etwas mit ihrem Inneren anrichtete, das sie nicht unter Kontrolle hatte. Es war so ähnlich wie am Vorabend, als er so spärlich bekleidet vor ihr gestanden hatte.
»Nur noch eine?«, wiederholte sie ein wenig atemlos.
Er nickte. »Die Null.«
»Null?«, fragte sie zweifelnd. »Was soll das für eine Zahl sein?«
»Die wichtigste überhaupt. Genau genommen ist sie jedoch gar keine Zahl, denn sie bedeutet für sich allein – nichts.«
»Was?« Verblüfft blickte Madlen auf das aufrecht stehende kleine Oval, das Johann auf die Tafel gezeichnet hatte. Anders als die vorigen Male hatte er keinen Stein zur Verdeutlichung der Menge auf das Rechenbrett gelegt. »Wozu braucht man sie dann, wenn sie nichts bedeutet?«
»Um größere Zahlen damit bilden zu können. Schau.«
Er malte eine Eins und hängte die Null daran. »Das ist eine Zehn. Und das hier …« – eine Zwei und eine Null – »… eine Zwanzig. Und hier haben wir eine Hundert. Eine Eins mit drei Nullen bedeutet tausend. Und die Zahlen dazwischen werden mit den übrigen Ziffern ausgedrückt. Sieh her. Elf. Zwölf. Dreizehn. Bis hin zur Zwanzig. Und dann immer weiter.«
»Warte.« Sie überlegte. »Zeig mir eine Einundzwanzig.« Erklärend fügte sie hinzu: »So alt werde ich bald.«
Er schrieb die Zahl hin.
»Und jetzt dein Alter.«
Er malte eine Drei und eine Null. Sie hob die Hand. »Nicht vorlesen. Ich will es selbst herausfinden.« Sie prüfte die Vergleichsziffern, suchte in der Reihe der dazu passenden Calculi die entsprechende Menge und dachte kurz nach. »Dreißig.«
Er nickte und blickte sie dabei an, als sei ihm wichtig, was sie darüber dachte, doch sie ging schon zur nächsten Frage über.
»Wie sieht eine Vierundsiebzig aus? So alt ist Cuntz.«
»Versuch es selbst.«
Madlen suchte mit dem Finger nach den Zahlen, zuerst auf dem Rechentuch, dann auf der Tafel. Sie starrte grübelnd auf die Ziffern, die mit einem Mal ein befremdliches Eigenleben entfalteten, es war, als wollten sie alle durcheinanderhüpfen, ohne Sinn und Bedeutung. Dann schien in ihrem Kopf plötzlich etwas zusammenzuschnappen, und alles rückte an den richtigen Platz. Zügig malte sie zuerst eine Sieben und dann eine Vier auf die Tafel. Dann schrieb sie beides in umgekehrter Reihenfolge. »Siebenundvierzig.« Danach eine Fünf
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