Das Erbe der Elfen
Vorhofs. Die Zauberin sprang rasch aus dem Sattel, reichte Ciri die Hand. Sie nutzte die Berührung, um vorsichtig einen magischen Impuls auszusenden. Und staunte. Denn sie spürte nichts. Keine Reaktion, keine Antwort. Und keinen Widerstand. In dem Mädchen, das eben erst eine unglaublich starke magische Aura aufgebracht hatte, befand sich keine Spur von Magie. Jetzt war das ein gewöhnliches Kind mit nachlässigem Haarschnitt und schlechter Kleidung.
Doch vor einem Augenblick war dieses Kind kein gewöhnliches Kind gewesen.
Sie hatte keine Zeit, über das seltsame Ereignis nachzudenken. Sie hörte das Knarren einer eisenbeschlagenen Tür, das aus dem dunklen Schlund eines Korridors drang, dessen Öffnung hinter dem halb zerstörten Burgtor gähnte. Sie ließ den Pelzumhang von den Schultern gleiten, nahm die Fuchsmütze ab und breitete mit einer raschen Kopfbewegung die Haare aus, ihren Stolz und ihr Erkennungszeichen – lange, golden schimmernde, üppige Locken von der Farbe frischer Kastanien.
Ciri seufzte vor Bewunderung. Triss lächelte, erfreut über die Wirkung. Schöne, lange und frei herabfallende Haare waren selten, ein Merkmal von Rang und Stand, das Kennzeichen einer freien Frau, die ihre eigene Herrin war. Das Kennzeichen einer ungewöhnlichen Frau – denn »gewöhnliche« Fräulein trugen Zöpfe, »gewöhnliche« Ehefrauen verbargen die Haare unter Hauben oder Kopftüchern. Damen von hohem Rang, Königinnen eingeschlossen, legten die Haare zu Frisuren. Kriegerinnen schnitten sie kurz. Nur Druidinnen und Zauberinnen – und Dirnen – trugen natürliche Mähnen zur Schau, um Unabhängigkeit und Freiheit zu unterstreichen.
Die Hexer erschienen wie üblich unerwartet, wie üblich lautlos, wie üblich wer weiß woher. Sie standen vor ihr, groß, braun gebrannt, die Arme vor der Brust verschränkt, das Körpergewicht auf den linken Fuß verlagert, in einer Haltung, aus der heraus sie, wie sie wusste, im Bruchteil einer Sekunde angreifen konnten. Ciri stellte sich zu ihnen – in derselben Haltung. Mit ihrer zusammengestückelten Kleidung und entschlossenen Miene sah sie sehr komisch aus.
»Willkommen in Kaer Morhen, Triss.«
»Sei mir gegrüßt, Geralt.«
Er hatte sich verändert. Er wirkte älter. Triss wusste, dass das biologisch nicht möglich war – Hexer alterten zwar, aber zu langsam, als dass ein gewöhnlicher Sterblicher oder eine so junge Zauberin wie sie Veränderungen hätte bemerken können. Aber es bedurfte nur eines Blickes, um zu erfassen, dass die Mutation den physischen Alterungsprozess aufhalten konnte, nicht aber den psychischen. Das von Falten übersäte Gesicht Geralts war der beste Beweis dafür. Mit dem Gefühl tiefen Bedauerns wandte Triss den Blick von den Augen des weißhaarigen Hexers. Von Augen, die zweifellos zu viel gesehen hatten. Außerdem erkannte sie in diesen Augen nichts von dem, worauf sie gehofft hatte.
»Willkommen«, wiederholte er. »Wir freuen uns, dass du gekommen bist.«
Neben Geralt stand Eskel, dem Wolf ähnlich wie ein Bruder, abgesehen von der Haarfarbe und einer langen Narbe, die seine Wange verunstaltete. Und der jüngste unter den Hexern von Kaer Morhen, Lambert, wie üblich mit einer unschönen, spöttischen Grimasse. Vesemir war nicht dabei.
»Wir grüßen dich und bitten dich herein«, sagte Eskel. »Es ist kalt, und es zieht, als hätte sich jemand aufgehängt. Ciri, wo willst du hin? Für dich gilt die Einladung nicht. Die Sonne steht noch hoch, obwohl sie nicht zu sehen ist. Du kannst noch üben.«
»He« – die Zauberin schüttelte die Haare –, »die Höflichkeit in der Heimstatt der Hexer scheint gelitten zu haben. Ciri hat mich hier als Erste begrüßt, mich zur Burg geführt. Sie muss mir Gesellschaft leisten ...«
»Sie wird hier ausgebildet, Merigold.« Lambert verzog das Gesicht zur Parodie eines Lächelns. Er nannte sie immer so: »Merigold«, ohne Anrede, ohne Namen. Triss hasste ihn. »Sie ist Schülerin, nicht Haushofmeister. Die Begrüßung von Gästen, sogar so lieben wie du, gehört nicht zu ihren Pflichten. Gehen wir, Ciri.«
Triss deutete ein Schulterzucken an und tat so, als sehe sie die verlegenen Blicke von Geralt und Eskel nicht. Sie antwortete nicht. Sie wollte die beiden nicht in noch größere Verlegenheit bringen. Und zudem wollte sie nicht, dass sie merkten, wie sehr das Kind sie interessierte und faszinierte.
»Ich werde dein Pferd wegbringen«, bot sich Geralt an und griff nach den Zügeln. Triss
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