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Das Erbe der Elfen

Das Erbe der Elfen

Titel: Das Erbe der Elfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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sein soll. Tote müssen in der Erde begraben werden. Unter einen Grabhügel. Nicht wahr?«
    »Ja«, bestätigte die Zauberin ruhig. »Das finde ich auch. Aber die Hexer betrachten diesen Friedhof als  ... Erinnerung.«
    »Als Erinnerung woran?«
    »Kaer Morhen« – Triss lenkte das Pferd zu den geborstenen Torbögen – »wurde überfallen. Es kam hier zu einer blutigen Schlacht, bei der fast alle Hexer umkamen; es überlebten nur diejenigen, die damals nicht in der Burg waren.«
    »Wer hat sie überfallen? Warum?«
    »Ich weiß nicht«, log sie. »Das ist schrecklich lange her, Ciri. Frag die Hexer danach.«
    »Habe ich«, murmelte das Mädchen. »Aber sie wollten es mir nicht sagen.«
    Ich kann sie verstehen, dachte die Zauberin. Einem Kind, das als Hexer ausgebildet wird, noch dazu einem Mädchen, das nicht den Mutationen unterzogen wird, sagt man nichts von diesen Dingen. Man erzählt so einem Kind nicht von dem Massaker. Man schreckt es nicht mit der Aussicht, dass es selbst eines Tages die Worte über sich hören könnte, die seinerzeit die gegen Kaer Morhen marschierenden Fanatiker brüllten. Mutant. Ungeheuer. Scheusal. Ein von den Göttern verfluchtes, naturwidriges Geschöpf. Nein, dachte sie, ich wundere mich nicht, dass die Hexer dir davon nichts erzählt haben, kleine Ciri. Und ich werde es dir auch nicht erzählen. Ich, kleine Ciri, habe noch mehr Gründe zu schweigen. Denn ich bin eine Zauberin, und ohne die Hilfe von Zauberern hätten die Fanatiker damals das Schloss nicht eingenommen. Und auch jene widerwärtige Schmähschrift, dieses weithin kolportierte »Monstrum«, das die Fanatiker aufgebracht und zu dem Verbrechen angestachelt hat, war wahrscheinlich das anonyme Werk irgendeines Zauberers. Aber ich, kleine Ciri, akzeptiere keine kollektive Verantwortung, ich fühle mich nicht verpflichtet, ein Ereignis zu bereuen, das sich ein halbes Jahrhundert vor meiner Geburt zugetragen hat. Und die Skelette, die eine ewige Erinnerung sein sollen, werden schließlich vergehen, zu Staub zerfallen und in Vergessenheit geraten, vom Winde verweht, der ruhelos über die Hänge streicht  ...
    »Sie wollen nicht so daliegen«, sagte Ciri plötzlich. »Sie wollen kein Symbol sein, kein Vorwurf des Gewissens und keine Warnung. Aber sie wollen auch nicht, dass ihr Staub vom Winde verweht wird.«
    Triss hob rasch den Kopf, als sie die Veränderung in der Stimme des Mädchens hörte. Augenblicklich spürte sie die magische Aura, das Pulsieren und Rauschen des Blutes in den Schläfen. Sie spannte sich an, sagte aber kein Wort, aus Furcht, zu unterbrechen und zu stören, was vor sich ging.
    »Ein gewöhnlicher Grabhügel.« Ciris Stimme wurde immer unnatürlicher, metallisch, kalt und böse. »Ein Haufen Erde, auf dem Gras wächst. Der Tod hat blaue und kalte Augen, und die Höhe des Obelisken spielt keine Rolle, auch nicht die Inschriften, die hineingemeißelt werden. Wer kann das besser wissen als du, Triss Merigold, die Vierzehnte von der Anhöhe?«
    Die Zauberin erstarrte. Sie sah, wie sich die Hände des Mädchens in die Mähne des Pferdes krallten.
    »Du bist auf der Anhöhe gestorben, Triss Merigold«, fuhr die böse, fremde Stimme fort. »Wozu bist du hierhergekommen? Kehre um, kehre sofort um, und dieses Kind, das Kind des Älteren Blutes, nimm mit dir, um es denen zu geben, denen es gehört. Tu das, Vierzehnte. Denn wenn du es nicht tust, wirst du abermals sterben. Es kommt der Tag, an dem sich die Anhöhe deiner erinnern wird. Das Gemeinschaftsgrab wird sich deiner erinnern und der Obelisk, auf dem dein Name eingemeißelt ist.«
    Der Wallach schnaubte laut und warf den Kopf hin und her. Ciri zuckte plötzlich zusammen, begann zu zittern.
    »Was ist geschehen?«, fragte Triss, bemüht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
    Ciri räusperte sich, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, rieb sich das Gesicht. »N-nichts  ...«, murmelte sie unsicher. »Ich bin müde, darum  ... Darum bin ich eingeschlafen. Ich muss laufen  ...«
    Die magische Aura war verschwunden. Triss spürte, wie plötzlich eine Kältewelle um ihren ganzen Körper schlug. Sie versuchte sich einzureden, das sei die Wirkung des gerade abflauenden Schutzzaubers, doch sie wusste, dass dem nicht so war. Sie blickte hinauf zu dem Steinblock des Schlosses, das sie mit den schwarz klaffenden Lücken der verfallenen Schießscharten anstarrte. Ein Schauder durchlief sie.
    Das Pferd klapperte mit den Hufeisen auf die Steinplatten des

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