Das Erbe der Elfen
zog die Zügel an. Sie wartete, dass der Hexer auf den Stamm liefe.
Der Hexer lief auf den Stamm, schoss wie ein Pfeil darüber hinweg, ohne den Lauf zu verlangsamen, ohne auch nur mit den Armen zu balancieren, leichtfüßig, geschickt, flüssig, mit unglaublicher Grazie. Huschte vorbei und verschwand sofort wieder zwischen den Bäumen, ohne auch nur einen Zweig zu berühren. Triss seufzte laut und schüttelte ungläubig den Kopf.
Denn der Hexer, nach Größe und Körperbau zu urteilen, war ungefähr zwölf Jahre alt.
Die Zauberin stieß dem Falben die Fersen in die Flanken, ließ die Zügel schießen und ritt im Trab den Bachlauf hinan. Sie wusste, dass die
Spur
den Hohlweg noch einmal überquerte, an einer Stelle, die als »Gurgel« bezeichnet wurde. Sie wollte noch einen Blick auf den kleinen Hexer werfen. Denn sie wusste, dass seit fast einem Vierteljahrhundert in Kaer Morhen keine Kinder mehr ausgebildet wurden.
Sie beeilte sich nicht übermäßig. Der schmale Pfad der
Quälerei
wand sich durch das Gehölz, für seine Überwindung musste der kleine Hexer viel mehr Zeit aufwenden als sie, die die Abkürzung nahm. Trödeln durfte sie jedoch auch nicht. Hinter der
Gurgel
bog die
Spur
in den Wald ab, führte geradewegs zur Burg. Wenn sie den Burschen nicht am Abgrund erwischte, sah sie ihn vielleicht überhaupt nicht mehr. Sie war schon ein paarmal in Kaer Morhen gewesen und überzeugt, dass sie dort nur das sah, was die Hexer ihr zeigen wollten. Triss war nicht so naiv, als dass sie nicht gewusst hätte, dass man ihr lediglich einen verschwindend geringen Teil dessen zeigen wollte, was es in Kaer Morhen zu sehen gab.
Nach ein paar Minuten Ritt das steinige Bachbett entlang erblickte sie die
Gurgel
– eine Enge, die über dem Hohlweg zwei große, moosbewachsene und von zwergwüchsigen Bäumen bestandene Felswände bildeten. Sie ließ die Zügel locker. Der Falbe schnaubte und neigte den Kopf zum Wasser, das zwischen den Steinen floss.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Die Silhouette des Hexers huschte über den Felsen, der Junge sprang, ohne den Lauf zu verlangsamen. Die Zauberin hörte den weichen Aufprall der Landung, im nächsten Augenblick aber das Poltern von Steinen, ein dumpfes Fallgeräusch und einen leisen Schrei. Oder eher ein Piepsen.
Triss sprang ohne zu überlegen aus dem Sattel, warf den Pelz von den Schultern und lief über den Hang, zog sich an Wurzeln und Ästen hoch. Sie stürmte auf den Felsen, rutschte aber auf den dort liegenden Tannennadeln aus und fiel neben der zusammengekrümmt auf den Steinen liegenden Gestalt auf die Knie. Bei ihrem Anblick sprang der Halbwüchsige wie eine Feder hoch, wich blitzschnell zurück und langte geschickt nach dem auf dem Rücken hängenden Schwert, stolperte aber und fiel zwischen die Wacholderbüsche und kleinen Föhren. Die Zauberin stand nicht auf, sondern schaute mit vor Staunen offenem Munde den Jungen an.
Denn das war gar kein Junge.
Unter dem aschblonden, ungleichmäßig und unschön geschnittenen Haarschopf blickten große smaragdgrüne Augen hervor, das dominierende Merkmal in dem Gesichtchen mit dem schmalen Kinn und der Stupsnase. In den Augen stand Furcht.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Triss unsicher.
Das Mädchen riss die Augen noch weiter auf. Sie atmete kaum und sah nicht erschöpft aus. Es war klar, dass sie schon so manchen Tag die
Quälerei
entlanggelaufen war.
»Ist dir nichts passiert?«
Das Mädchen antwortete nicht, stand stattdessen rasch auf, ächzte vor Schmerz, verlagerte das Körpergewicht auf das linke Bein, bückte sich und massierte sich das Knie. Gekleidet war sie in eine Art Lederanzug, der auf eine Art genäht oder besser zusammengestückelt war, dass jeder Schneider, dem sein Beruf lieb war, bei dem Anblick verzweifelt und wütend aufgeheult hätte. Das Einzige, was an ihrer Ausrüstung halbwegs neu und passend aussah, waren die kniehohen Stiefel, der Gürtel und das Schwert. Genauer gesagt, das Schwertchen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte Triss, noch immer auf den Knien. »Ich habe gehört, wie du hingefallen bist, da bin ich erschrocken und hier hochgerannt ...«
»Ich bin ausgerutscht«, murmelte des Mädchen.
»Hast du dir nichts verletzt?«
»Nein. Und du?«
Die Zauberin lächelte, versuchte aufzustehen, verzog das Gesicht und fluchte, als ihr ein heftiger Schmerz durchs Fußgelenk schoss. Sie setzte sich hin, streckte vorsichtig das Bein aus,
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