Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
hatte, ein weiteres Mal las.
Vater,
ich schreibe Euch diese Zeilen, um Euch wissen zu lassen, dass es mir und meiner Gemahlin sowie unserer Tochter gut geht. Die Reise nach Mailand verlief ereignislos, und wir haben uns schon an die Gepflogenheiten der Italiener angepasst.
Ich trage Euer Wappen mit Stolz und Euren Namen mit einem Gefühl, für das ich keine Worte finde. Seit meinem letzten Brief an Euch sind einige Dinge geschehen, die mich hoffen lassen, Euch schon im nächsten Jahr besuchen zu können.
Nicht nur bin ich inzwischen ein angesehener Bildhauer; mein Stall, der erst vorige Woche Zuwachs erhalten hat, gedeiht wunderbar. Die kleinen, zähen Pferde in dieser Gegend eignen sich hervorragend zur Zucht. Ich muss oft an Eure Worte denken, und schon mehr als einmal haben sie mich vor einem Betrüger bewahrt.
Ich hoffe, Ihr seid alle wohlauf. Ich grüße Eure Gemahlin und den kleinen Otto, der hoffentlich seine Krankheit überwunden hat.
Sobald der Aufbruch nach Katzenstein in greifbare Nähe rückt, werde ich Euch Nachricht zukommen lassen. Brigitta brennt darauf, Euch endlich kennenzulernen.
Gott segne Euch und die Euren.
Wulf
Verstohlen wischte sich der Ritter die Tränen aus dem Augenwinkel. Wie bereits bei dem ersten ungeschickten und befangenen Brief seines Sohnes, übermannten ihn auch dieses Mal all die Gefühle, die er für begraben gehalten hatte. Ganz gleich, wie sehr er versucht hatte, sich vorzumachen, dass dieses Kapitel seines Lebens abgeschlossen war – das Band, das ihn mit dem jungen Mann verknüpfte, würde wohl niemals vollkommen abreißen.
Vorsichtig faltete er das Pergament und verstaute es in der Tasche seiner Schecke. Wie der Vater, so der Sohn, dachte er wehmütig und malte sich ein Wiedersehen aus, von dem er nicht sicher war, ob es jemals stattfinden würde. Dazu kannte er das Leben zu genau: es kamen immer irgendwelche Dinge dazwischen, bis man schließlich feststellte, dass es zu spät war für das, was man hatte tun wollen. Ein nur schwer zu deutender Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er würde abwarten. Etwas anderes blieb ihm vermutlich nicht übrig. Abwarten und sich um die beiden Menschen kümmern, die ihm genauso am Herzen lagen wie sein verlorener Sohn.
Nach einem letzten Griff an die Brust wandte er sich von dem Ausblick ab und stieg die Treppen hinab in das kleine Turmzimmer, in dem Adelheid sich seit der schweren Geburt immer öfter aufhielt. Auch heute fand er sie – den knapp sechs Wochen alten Otto auf dem Arm – vor dem Kamin sitzend, in dem ein heiteres Feuer die Frühlingskühle im Zaum hielt.
»Sieh nur«, platzte sie hervor, kaum hatte er den Raum betreten. »Er hat mich angesehen, als ob er mich bereits erkennen würde!« Mit vor Aufregung geröteten Wangen reichte sie den Knaben an seinen Vater weiter, der ihn vorsichtig in seine Armbeuge bettete. Wie winzig er war!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er liebevoll das rosige Gesichtchen betrachtete. Da er der Versuchung nicht widerstehen konnte, schob er seinen Finger an die Faust des Kleinen, die sich augenblicklich mit erstaunlicher Kraft um ihn schloss.
Ein Schauer legte sich über seine Glieder, als er an die einsamen Nächte zurückdachte, in denen er um Adelheid und Otto gebangt hatte. Nach einer ewig scheinenden Entbindung hatte es einige Zeit lang ausgesehen, als ob seine Gemahlin nicht überleben würde, und auch der Junge hatte besorgniserregend gekränkelt. Dank der alten Hebamme des Dorfes waren Adelheids Kräfte jedoch nach zwei Wochen zurückgekehrt, und sobald der Säugling Muttermilch bekommen hatte, hatte sich auch dessen Zustand gebessert.
Jetzt hielt Wulf von Katzenstein einen strammen Stammhalter im Arm, dessen ungehaltenes Strampeln ihn hoffen ließ, einen mächtigen Ritter heranwachsen zu sehen. Während er den Duft des Kindes einsog, dachte er an die eigene Entwicklung zurück. Wie unendlich lang seine Knappenzeit zurücklag! Er hob den Knaben höher und vergrub die Nase in dem weichen, pechschwarzen Flaum. In weniger als vier Monaten würde er seinen einundvierzigsten Geburtstag begehen! Einundvierzig Jahre – wie war die Zeit nur so schnell vergangen?
Als der Junge den Mund öffnete, um ein ohrenbetäubendes Gebrüll anzustimmen, gab er ihn hastig seiner Mutter zurück, die ihn leise summend an die Brust legte. Voller Liebe betrachtete er das friedliche Bild und bewunderte die Jugend und Unschuld der beiden. Er war ein alter Mann!, dachte er reumütig. Auch wenn er
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