Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
möglich mit dem gleichen Schutz behängen wollen, der auch sie vor Schaden bewahrt hatte.
Als sie das prächtige Haus erreichte, das Wulf sofort nach ihrer Ankunft in der Stadt erstanden hatte, drückte sie das schlafende Mädchen der Amme in die Arme und erklomm die Stufen ins Obergeschoss. Dort löste sie die steife Haube aus ihrem Haar und betrachtete sich in dem auf Hochglanz polierten silbernen Spiegel. Trotz der Geburt war ihre Taille immer noch genauso schlank wie eh und je, und selbst die unbarmherzige Sonne Italiens hatte ihrem ebenmäßigen Teint nichts anhaben können. Bald, dachte sie mit einem Blick auf ihren flachen Bauch, bald würde sie Wulf den Sohn schenken, den sich jeder Vater wünschte.
Erschöpft von dem Spaziergang ließ sie sich auf eine gepolsterte Sitzbank fallen und griff nach einer Stickerei, die sie seit Wochen vernachlässigt hatte. In Gedanken versunken zog sie die feine Nadel durch den buckelnden Kater, der als kleines Emblem alle Kleidungsstücke zierte, die Wulf sich schneidern ließ. Ob er den Plan in die Tat umsetzen würde, den er ihr vor einiger Zeit mitgeteilt hatte?, fragte sie sich. Nur zu gern würde sie auch seinen leiblichen Vater kennenlernen. Nachdem ihr Weg nach Mailand sie über Straßburg geführt hatte, wo Wulf sich mit seinen Zieheltern ausgesöhnt hatte, brannte sie vor Neugier, wie ähnlich der Ritter wohl dem Sohn war – oder umgekehrt.
Als es in der Kammer nach einiger Zeit zu heiß und stickig wurde, öffnete sie das Fenster und lauschte auf die inzwischen vertrauten Geräusche der Pferde, die in vier geräumigen Ställen untergebracht waren. Einige Augenblicke verharrte sie an dem breiten Sims und genoss den Luftzug. Dann kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück und begann mit dem Hintergrund des gestickten Bildes, während sie zum wohl tausendsten Mal ihren Dank zum Himmel schickte.
Fakten und Fiktion
Wenngleich ich versucht habe, mich so weit als möglich an geschichtliche Fakten zu halten, habe ich mir an manchen Stellen die Freiheit genommen, Ergänzungen vorzunehmen. Damit sich der heutige Besucher der Stadt Ulm ein wenig besser zurechtfindet, habe ich einige markante Gebäude in den Roman eingebaut, die zum Teil erst etwas später errichtet wurden. Auch die Grundsteinlegung des Ulmer Münsters ist erst für das Jahr 1377 verbrieft. Stadtärzte sind ebenfalls erst ab dem 15. Jahrhundert in Ulm nachweisbar. Bei der Beschreibung des Heilig-Geist-Spitals habe ich mich an einem typischen spätmittelalterlichen Kloster orientiert.
Der wenig liebenswerte Onkel des Protagonisten, Karl von Helfenstein, sowie der ehrenwerte Ritter Wulf von Katzenstein sind frei erfunden. Katharina von Helfenstein fand erst nach 1387 den Tod; die Burg Katzenstein war seit 1354 Lehen der Grafen von Oettingen und nicht mehr des Bischofs von Augsburg, und der Ritter Rudolf von Falkenstein lebte gut einhundert Jahre vor unserer Geschichte. Die Beschreibung der Burg Katzenstein sowie des wundervollen Freskos in der Burgkapelle St. Laurentius verdanke ich dem auf der Burg erhältlichen Informationsmaterial sowie einer aufschlussreichen Führung, die so gut wie keine Fragen offenließ. Sicherlich wäre – was das Erbrecht betrifft – ein Bastard der Gräfin für Eberhard von Württemberg nicht ganz so gefährlich gewesen wie dargestellt. Aber einerseits konnte er nicht widerlegen, dass nicht doch sein Bruder der Vater war und andererseits ging er so wie im Roman beschrieben auf Nummer sicher. Hier auch noch ein Wort zur Scheidung: Der Begriff selbst stammt aus dem Mittelhochdeutschen (»scheidunge«), und ein Ehemann konnte seine Frau bei Ehebruch oder Untreue verstoßen beziehungsweise sich von ihr scheiden lassen. Es handelt sich also keineswegs um ein modernes Konzept. Was den Ausdruck »Flittchen« angeht, ist dieser zwar erst seit dem 19. Jahrhundert nachweisbar, wurde aber aus dem mittelhochdeutschen Wort »flittern« – kichern, liebkosen – rückgebildet. Es kann also vermutet werden, dass der Begriff zumindest im Volksmund bereits existierte.
Der vorliegende Roman baut auf einer Vorgängergeschichte auf, Die Launen des Teufels , deren zentrale Ereignisse die große Pestepidemie der Jahre 1347 bis 1352/53 und die Bauplanung des Ulmer Münsters sind. Dies hat zur Folge, dass sämtliche Elemente, die an diesen Plot anknüpfen, um 28 Jahre verschoben werden mussten. Aus diesem Grund sind alle Ereignisse, die sich um den Bau des Ulmer Münsters drehen, um diesen Zeitraum in die
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