Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
muss ihm etwas vorspielen wie jedem alten Mann, der mich aus Eitelkeit und Wollust begehrte. Wenn er mir gibt, was ich will, dann werde ich ihm meine Gunst schenken, aufrichtiger kann ich es nicht sagen. Ich könnte fast über mich selbst lachen: dass ich dem mächtigsten Mann der Welt meine kleine Gunst schenke! Aber wenn er sie will und so reich dafür bezahlt, dann bin ich bereit, mich zu verkaufen.
Meine Großmama, die Herzogin, lobt mich immer wieder, dass ich ihr sehr, sehr kluges kleines Mädchen bin und der Familie Reichtum und Größe einbringe. Königin zu sein ist ein Triumph, der weit über unsere kühnsten Träume hinausgeht, aber es existiert eine noch kühnere Hoffnung: Wenn ich empfange und einem Sohn das Leben schenke, wird unser Ansehen so hoch steigen wie das der Seymours. Und wenn der kleine Seymour, Prinz Eduard, sterben sollte (was Gott natürlich verhüten möge!), dann würde mein Sohn der nächste König von England, und wir Howards wären mit dem König verwandt. Dann wären wir die königliche Familie, oder so gut wie, jedenfalls die mächtigste Familie Englands, und alle müssten mir dafür dankbar sein. Mein Onkel Norfolk müsste sein Knie vor mir beugen und mich für meine Protektion preisen. Bei der bloßen Vorstellung breche ich in Kichern aus und kann vor lauter Entzücken nicht mehr weiter tagträumen.
Es tut mir von Herzen leid für meine Herrin, Königin Anna. Ich wäre gern ihre Ehrenjungfer geblieben, ich hätte gern miterlebt, wie sie glücklich wird. Aber was nicht sein kann, geschieht auch nicht, und ich wäre wirklich töricht, wenn ich über mein Geschick klagen würde. Königin Anna ist wie jene armen Männer, die hingerichtet wurden, damit ich ihre Ländereien erhalten konnte - oder wie die armen Nonnen, die aus ihren Klöstern verjagt wurden, damit wir reicher wurden. Manche Menschen müssen nun mal für unseren Wohlstand leiden. So geht es auf der Welt zu, habe ich gelernt. Und es ist nicht meine Schuld, wenn die Welt für andere so hart ist. Ich hoffe, dass sie eines Tages auch ihr Glück findet. Vielleicht kehrt sie heim zu ihrem Bruder nach diesem Wie-hieß-das-noch. Die Arme. Oder vielleicht heiratet sie den Mann, dem sie versprochen war. Mein Onkel hat gesagt, dass es sehr schlecht war von ihr, nach England zu kommen, wo sie doch wusste, dass sie mit einem anderen verlobt war. Das ist wirklich schockierend, und ich bin überrascht, dass sie so etwas getan hat. Sie kam mir immer sehr gut erzogen vor, und ich kann nicht glauben, dass sie so etwas Ungehöriges getan hat. Wenn mein Onkel von diesem früheren Ehekontrakt spricht, dann fällt mir natürlich mein lieber armer Francis Dereham ein. Ich habe unser Gelübde nie erwähnt, und ich finde auch wirklich, es ist das Beste, es vollkommen zu vergessen und so zu tun, als hätte ich es nie gegeben. Es ist nicht immer leicht, in einer Welt voller Verlockungen als junge Frau durchzukommen, und ich tadele Königin Anna nicht dafür, dass sie zuerst mit einem anderen verlobt war und dann erst den König heiratete. Ich selbst würde das natürlich nicht tun, aber da Francis Dereham und ich nicht richtig verheiratet waren, ja nicht einmal richtig verlobt, zählt es auch nicht. Ich hatte ja nicht mal das richtige Kleid dafür, es war also keine richtige Hochzeit und auch kein bindendes Verlöbnis. Wir haben nur geträumt wie kleine Kinder und ein paar unschuldige Küsse ausgetauscht. Mehr war da eigentlich nicht. Jedenfalls könnte sie es schlechter treffen, als nach ihrer Heimkehr ihre erste Liebe zu heiraten. Ich jedenfalls werde Francis immer ein zärtliches Andenken bewahren. Die erste Liebe ist immer etwas Schönes - vermutlich schöner als ein sehr alter Ehemann. Wenn ich erst Königin bin, werde ich sehen, ob ich etwas für Francis tun kann.
A NNA , W ESTMINSTER , 10. J UNI 1540
Gott steh mir bei, sie haben Thomas Cromwell verhaftet!
Thomas Cromwell, der so viel Vertrauen genoss, dass er mich nach England holen durfte, ist verhaftet worden, unter der Anklage des Hochverrats. Hochverrat! Er ist des Verrats so wenig fähig wie einer von des Königs Jagdhunden! Es ist ganz deutlich, dass dieser Mann kein Verräter sein kann. Es kann nur einen Grund geben, warum er verhaftet wurde: Weil er dafür bestraft werden sollte, dass er die Ehe mit mir eingefädelt hat. Diese Anklage wird ihn geradewegs auf den Richtblock bringen. Und wenn er das Schafott besteigt, dann kann es kaum Zweifel geben, dass ich ihm folgen
Weitere Kostenlose Bücher