Das Erbe der Pilgerin
stellt Sophia gerade zur Rede. Und wie ich sie kenne, wird sie ihm mit glühendem Blick von der göttlichen Fügung erzählen, die das Geschlecht derer von Ornemünde wieder in Liebe zusammenführt – oder etwas in der Art. Ihr solltet das Weite suchen, und das schnell!«
Rüdiger nickte alarmiert, aber Dietmar straffte sich.
»Dann soll es wohl so sein«, sagte er ruhig. »Wir werden uns meinem Verwandten entgegenstellen. Er muss akzeptieren …«
»Wir?«, höhnte Rüdiger. »Deine Sophia wird er kaum in die Forderung mit einbeziehen. Himmel, Dietmar, wenn sie wirklich gestanden hat, mit dir zu tändeln, dann hat er einen veritablen Grund, dir den Fehdehandschuh hinzuwerfen! Hier vor König und Volk, da braucht er gar keine Finten! Und du kannst nicht gewinnen, du …«
»Mich erfüllt die Kraft der Hohen Minne«, sagte Dietmar würdevoll.
»Das ist nicht komisch!«, brüllte Rüdiger.
»Dietmar, Ihr müsst … Ihr müsst fort!«
Die Ritter, die sich um die Garküche gruppiert hatten, machten verwundert Platz für das junge Mädchen, das eben mit wehendem Haar und offenem Mantel auf Dietmar und Rüdiger zugelaufen kam. Sophia von Ornemünde hatte Schleier und Schepel verloren, in ihren aufwändigen seidenen Schnabelschuhen war sie gänzlich undamenhaft vom Dom zum Turnierplatz gerannt. Wer auch immer sie sah, musste einen fürchterlichen Eindruck von ihr bekommen. Sie war ihrer Mutter entflohen, als diese im Dom mit zittrigen Fingern eine Kerze entzündete, und was ihr Vater später mit ihr tun würde, war ihr gänzlich gleichgültig. Es war nur wichtig, Dietmar zu erreichen, bevor Rolands Fehdehandschuh vor ihm in den Staub fiel.
Sophia schaffte es gerade noch, genug Haltung zu bewahren, um ihm nicht um den Hals zu fallen. »Dietmar, Gott sei Dank, ich bin rechtzeitig gekommen. Ihr … Ihr müsst fliehen, Dietmar, mein Vater sucht Euch. Er will Euch fordern und …«
»Dann werde ich kämpfen wie ein Mann!«, gab der junge Lauensteiner gelassen zurück. Das Mädchen musste an sein Herz rühren, aber jetzt war er ganz Ritter, ganz Kämpfer, Verteidiger seiner und ihrer Ehre. »Auf keinen Fall werde ich feige fliehen! Ich werde für Euch und für Lauenstein in die Schranken reiten, ich …«
»Du wirst in einer eiligen Angelegenheit des Prinzen sofort nach Paris aufbrechen«, unterbrach ihn Rüdiger. »Während Ihr, Herrin … Ihr seid zweifellos nicht bei Euch, irgendetwas muss Euch erschreckt haben. Ein … langer Tag auf dem Turnierplatz … die Kämpfe der Ritter, das … Blut …« An diesem Tag war gar keins geflossen, aber etwas anderes fiel Rüdiger nicht ein. »Das ist zu viel für eine zarte Seele wie Euch, meine Dame. Bitte erlaubt der Herrin Mi … Ayesha, Euch in eines der Zelte zu begleiten, wo Ihr Euch beruhigen und erfrischen könnt.«
»Ich muss mich nicht erfrischen!«, rief Sophia.
»Ich werde mich nicht unmännlich davonschleichen!«, erklärte Dietmar.
Aber dann straffte Sophia sich. Sie schien endlich zu begreifen, dass Dietmar zwar sicher ritterlich handelte, aber damit sein Todesurteil unterschrieb. Entschlossen baute sie sich mit blitzenden Augen vor ihm auf und versuchte, Zorn zu empfinden.
»Ihr werdet Euch dem Willen Eurer Dame unterwerfen!«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Im Namen der Hohen Minne fordere ich von Euch den Verzicht auf den Kampf. Ich … ich fordere die ritterliche Tugend der … der Demut … so … so wie einstmals die Herrin Guinevere sie von Lancelot forderte, ich …«
Rüdiger griff sich wieder einmal an die Stirn. Die beiden erinnerten ihn an aufgebrachte Kinder. Inzwischen hatte die Gruppe natürlich die Aufmerksamkeit der halben Ritterschaft. Und es war zweifellos das Beste, das Spiel mitzuspielen, sosehr ihm diese höfische Tändelei auch auf die Nerven ging.
»Du hörst es, Dietmar!«, bemerkte er streng – und versuchte, sich an passende Stellen aus der Artussage zu erinnern. »Deine Dame fordert das höchste Opfer von dir. Maßhalten, Zurückhaltung … um ihrer Liebe willen. Wirst du dich ihr unterwerfen?«
Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille. Dann senkte Dietmar den Kopf und ließ sich vor Sophia auf ein Knie nieder.
»Euch, meine Dame, gehört mein Leben und meine Ehre!«, sagte er dann. »Ich bin Euer Diener. Was befehlt Ihr mir?«
Eine halbe Stunde später ritten Rüdiger, Hansi und der gedemütigt wirkende Dietmar nach Süden. Der Prinz hatte die Dringlichkeit der Lage sofort eingesehen und die Ritter mit einer
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