Das Erbe der Pilgerin
Geneviève, ich kann nur wiederholen: Es ist ein Ruf erfolgt. Vom Grafen – und von unserem Bischof. Beide befehlen dich an den Hof. Betrachte es also als deine Pflicht. Gerade als Initiierte und künftige Parfaite. Du hast keusch zu leben, du hast zu fasten, und du hast zu arbeiten! Dazu verpflichtet dich dein Gelübde. Also versieh deinen Dienst als Hofdame der Gräfin in Würde. In ein paar Jahren kannst du dann zurückkommen, und man wird dir das Consolamentum erteilen. Wenn du dich dem Bischof widersetzt, weiht er dich nie!«
Geneviève senkte den Kopf. »Wie du willst, Vater«, gab sie schließlich nach. »Wie Gott will.«
Nach dem Willen ihres Vaters hätte Geneviève jetzt eigentlich ihre Sachen packen müssen. Aber sie war viel zu aufgewühlt, um sich jetzt schon für die Reise zu rüsten. Zumal es ohnehin nicht viel zu tun gab. Genevièves persönliche Habe beschränkte sich auf ein paar schlichte Kleider und Haarreifen, weitgehend von schwarzer Farbe. Als Parfaite gelobte sie Armut – und ihr augenblicklicher Stand als Initiierte sollte sie auf dieses vollkommen gottgeweihte Leben vorbereiten. Freiwillig hielt sie sich jetzt schon an die Regeln, die sie später niemals mehr brechen durfte. Nun aber streifte sie vermeintlich ziellos durch die Festung – um dann doch vor den Räumen des Medikus stehen zu bleiben und zaghaft zu klopfen.
»Herr Gérôme …«
»Tritt nur ein, Geneviève … verzeih, dass ich dir nicht öffne, aber …«
Geneviève wusste Bescheid. Es war ein kalter, regnerischer Tag, und schon gesunde Männer im Alter des Medikus stöhnten über schmerzende Knochen. Gérôme de Paris setzte das Wetter deutlich mehr zu. Wahrscheinlich dankte er seinem Gott, dass er heute wenigstens nicht zu einem Patienten gerufen worden war, sondern den Tag am Feuer seiner Kemenate verbringen konnte.
Da traf Geneviève ihn denn auch an, wie so oft in seinem Lehnstuhl mit einem Buch in der Hand, das lahme Bein auf einem Hocker hochgebettet. Natürlich legte er das Buch gleich beiseite, als das Mädchen eintrat – aber Geneviève hinderte ihn mit einer ablehnenden Handbewegung daran, sich aufzusetzen und damit eine weniger bequemere, dafür majestätischere Haltung einzunehmen. Manchmal benahm er sich wie ein Ritter …
Geneviève lächelte. »Für mich müsst Ihr nicht aufstehen, Herr Gérôme«, sagte sie und verbeugte sich leicht.
Der Medikus lächelte, was seinem hageren, scharf geschnittenen Gesicht sofort einen einnehmenden, vertrauenerweckenden Ausdruck gab. Aufmerksame, grünbraune Augen blickten das Mädchen unter dichten Brauen an, während der Arzt sein volles dunkelbraunes Haar zurückstrich. Er war jünger, als er auf den ersten Blick wirkte.
»Das sagst du so, Geneviève«, sagte er freundlich. »Aber du solltest auf deinen Privilegien bestehen. Schließlich bist du von Adel. Eine Dame …«
»Ich werde eine Parfaite sein!«, erklärte Geneviève hoheitsvoll. »Das ist sehr viel mehr als …«
»Umso mehr Achtung wird die Welt dir erweisen müssen«, lächelte der Medikus. »Es wird mir allerdings schwerfallen, zur Begrüßung gleich dreimal das Knie vor dir zu beugen.« Er wies auf sein steifes Bein.
»Auch das müsst Ihr nicht«, meinte Geneviève und zog sich einen Schemel ans Feuer, sodass sie dem Arzt gegenübersitzen konnte. Das Möbel war fein gedrechselt und kam aus maurischen Landen. Überhaupt war die Kemenate des Medikus weit wohnlicher und luxuriöser eingerichtet als die bescheidene Unterkunft von Genevièves Vater. »Das Melioramentum erweisen uns nur Mitglieder unseres eigenen Glaubens.«
Gérôme de Paris gehörte zu Genevièves Leidwesen nicht dazu. Er hatte das auch nie behauptet, wobei dies kein großes Problem darstellte. Hier in Okzitanien lebten die Albigenser mit den Anhängern des Papstes in Frieden. Mitunter brauchten sie die kriegerischeren römischen Christen sogar – oft oblag ihnen die Verteidigung der Städte, und die Bonhommes zahlten nur ihre Waffen und ihren Sold. Es strebten auch nur wenige Albigenser nach Wissen im Bereich der Medizin, schließlich galt der Körper als sündig. So war ein fähiger Arzt wie Herr Géroˆme für jeden Ort ein Gewinn.
Geneviève wusste allerdings nicht, wie ihr Vater und der Rest der Garnison auf die Erkenntnis reagiert hätten, dass Gérôme de Paris Jude war. Bislang hatte ihn niemand danach gefragt, auch Geneviève hatte er es nicht von sich aus verraten. Die junge Initiierte schloss darauf nur aus seiner
Weitere Kostenlose Bücher