Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Dennoch hob sie das Erbstück vorsichtig aus der Schatulle. Warm und vertraut schmiegte es sich in ihre Hand, und ein seltsam beschwingtes Glücksgefühl breitete sich in ihr aus. Ihr Herz schlug noch heftiger, und ein berauschender Schwindel zwang sie, sich hinzusetzen.
Wie schön es ist!, dachte Ajana ehrfürchtig. Obwohl sie das Schmuckstück nie zuvor gesehen hatte, spürte sie eine tiefe Vertrautheit mit dem Kleinod, gerade so, als hätte sie es längst verloren geglaubt und nun völlig unverhofft wieder gefunden. Die Bedeutung der seltsamen Schrift war ihr fremd, aber sie war sich schon jetzt sicher, dass sie das Amulett niemals wieder hergeben würde.
Ein heißer Wind peitschte die rauchlosen Flammen des ewigen Feuers zu glühenden Fahnen, die gierig an der rußgeschwärzten Kuppel des Tempels leckten. Der flackernde Feuerschein, der von dem schwarzen Steinboden fast völlig verschluckt wurde, warf zuckende Schatten auf die schmucklosen Wände des kreisrunden Gewölbes, in dessen Mitte die Flammen wie ein feuriger Geysir in die Höhe schossen. Weder Holz noch Öl nährten die fauchende Feuersäule, die dem Boden auf magische Weise zu entspringen schien und deren Flammen sich unter der hohen, kuppelartigen Decke des Gewölbes verloren.
Feuriger Brodem schlug Vhara entgegen, als sie das Heiligtum des dunklen Gottes betrat. Ihre Kehle schmerzte von der heißen Luft, doch sie zeigte keine Furcht und schritt unbeirrt und hoch erhobenen Hauptes voran.
Unmittelbar vor den Flammen hielt sie inne und wartete. Hier war es so heiß, dass kein sterblicher Mensch die Nähe hätte ertragen können, doch die Priesterin zeigte sich gefeit gegen die Urgewalt des Feuers und hob die Arme ehrerbietend in die Höhe. »Meister!« Ihre Stimme erhob sich über das Fauchen der Feuersäule. »Meister!« Demut lag in ihrem Ruf, aber auch etwas Drängendes, das deutlich machte, dass ihr Anliegen keinen Aufschub duldete. »Deine gehorsame Dienerin ruft dich an und erbittet, zu dir sprechen zu dürfen.« Sie sank auf die Knie und verharrte in unterwürfiger Haltung vor der Feuersäule.
Für endlose Augenblicke blieb das Fauchen der lodernden Flammenzungen das einzige Geräusch in dem kleinen Tempel, den zu betreten nur der Hohepriesterin gestattet war. Dann wandelte sich die Farbe des Feuers. Ohne dass der magische Feuersturm an Macht verlor, verdunkelte sich das gleißende Gelb-Orange zu einem leuchtenden Rot, der Farbe frischen Blutes.
»Komm!« Mächtig und dröhnend wie ein dumpfer Glockenschlag schallte eine körperlose Stimme aus dem Feuer. Vhara erhob sich, kreuzte die Hände vor der Brust und trat nach einem kurzen Augenblick des Zögerns mitten in die Flammen hinein. Sie spürte die Gier der Lohen und deren unbändiges Verlangen, sie zu verschlingen. Doch als Dienerin des dunklen Gottes konnte ihr keine Flamme der Welt Schaden zufügen. Die Macht ihres Meisters war so allgewaltig, dass ihm selbst die unbeugsamen Elemente Respekt zollten und sich seinem Willen unterwarfen. Mit ihrer Hilfe hatte er sich die Menschen unterworfen und den Siegeszug durch die Welt der alten Götter angetreten.
Die alten Götter! Vhara zog geringschätzig die Mundwinkel nach unten. Schwach waren sie. Schwach und dumm. Hatten sich schlafen gelegt, als immer mehr Menschen den Glauben an sie verloren hatten. Feige hatten sie sich zurückgezogen und sich schmollend in den ewigen Schlaf geflüchtet – einen Schlaf, den sie mit vielen Göttern teilten, die längst vergessen waren und aus dem sie nur erwachen konnten, wenn der Glaube an sie zurückkehrte.
Doch einer hatte den Schlaf nur vorgetäuscht und geduldig abgewartet, bis seine Zeit gekommen war. Als die Götter schliefen, war er allein auferstanden, um sich die Welt Untertan zu machen. In den verlassenen Landen hatte er ein leichtes Spiel gehabt. Dürren, Seuchen und Hungersnöte, mit denen er die ahnungslosen Menschen gegeißelt hatte, waren seine Werkzeuge gewesen, sie an sich zu binden. Seit jener Zeit ergossen sich Tag um Tag Ströme von Blut über die Altäre der Gläubigen, und mit jedem Tropfen wuchs seine Macht weiter an.
»Sprich!« Über das Rauschen der Flammen hinweg hörte Vhara die Stimme des Gottes, dem sie ihre ewige Jugend und Schönheit verdankte. Die stolze dunkelhaarige Frau erbebte, denn sie wusste, dass ihr Bericht dem Meister missfallen würde. Doch sie hätte niemals so viel Macht erlangt, hätte sie sich in der Vergangenheit schwach und zögerlich gezeigt.
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