Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
»Wie ich den Unterlagen entnehme, hatten Sie nach dem tragischen Unfalltod Ihrer Eltern und der Adoption durch Ann und Paul Evans keinen Kontakt mehr zu ihren irischen Verwandten. Ist das richtig?«
»Ja, das stimmt.« Ajanas Vater nickte. »Von meiner irischen Abstammung erfuhr ich erst vor ein paar Jahren, nach dem Tod meines Pflegevaters. Meine eigenen Nachforschungen blieben allerdings ohne Erfolg.«
»Nun, das ist nicht weiter verwunderlich.« Mr. O’Donnell schlug den Aktenordner auf. »Selbst wir hatten größte Schwierigkeiten, die Erben von Mrs. O’Brian ausfindig zu machen. Als sie starb, leitete mein Vater noch die Kanzlei. Die alte Dame hatte das Testament Jahre zuvor bei ihm hinterlegt. Ein Schlaganfall fesselte sie damals ans Bett, und sie fürchtete, nicht mehr lange zu leben.« Mr. O’Donnell räusperte sich. »Nachdem das Ableben von Mrs. O’Brian aktenkundig wurde, nahm mein Vater die Ermittlung der im Testament erwähnten Personen und deren Nachkommen auf. Doch erst nach intensiver Suche fand er zwei Familien, bei denen ein eindeutiges Verwandtschaftsverhältnis zu der Verstorbenen nachweisbar war.« Er hielt kurz inne, atmete tief durch und fuhr dann mit deutlich gesenkter Stimme fort: »Die meisten direkten Verwandten der alten Dame waren längst verschieden, und auch von deren Nachkommen lebte keiner mehr – was nicht ungewöhnlich ist in Anbetracht des hohen Alters von Mrs. O’Brian. Auffallend war jedoch, dass viele von ihnen eines mysteriösen und sehr frühen Todes starben. Mein Vater äußerte einmal den unheimlichen Verdacht, es läge gar ein Fluch auf dieser Familie.«
Ajana fröstelte. Obwohl ihre Mutter noch ein Holzscheit nachgelegt hatte und der Kamin eine angenehme Wärme verbreitete, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.
Eine schleichende Veränderung, die sie sich nicht erklären konnte, sickerte mit den Worten des Anwalts, der gerade einen weiteren unerklärlichen Todesfall schilderte, in das behagliche Wohnzimmer. Die Luft wurde kühler und schien sich zu verdichten. Das Licht der Nachmittagssonne verfinsterte sich, und die Schatten im Wohnzimmer wirkten plötzlich düster und bedrohlich. Ein jäh aufkommender Wind strich durch den Garten und trieb die zarten Blüten des Flieders in einer violetten Wolke vor sich her.
Doch außer Ajana schien keiner die Veränderungen zu bemerken.
»Nun, das klingt ja fast wie aus einem Kriminalfilm«, hörte sie ihren Vater sagen. »Demnach sind nur zwei Familien verschont geblieben?«
»Verschont? Nicht ganz«, erwiderte der Anwalt ernst und bedachte Ajana mit einem schwer zu deutenden Blick. »Beide Familien hatten eine Tochter – genau wie Sie.«
»Hatten?«, warf Ajana bestürzt ein.
»Ja, ganz recht, sie hatten eine Tochter. Beide Mädchen wären laut Testament als Erbinnen in Frage gekommen.« Er tippte mit dem Zeigefinger bedeutsam auf die Akte, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lag. »Aber sie kamen auf tragische Weise ums Leben, kurz bevor sie das sechzehnte Lebensjahr vollenden konnten. Patricia Hundt wurde 1998 bei einem Unwetter von einem Baum erschlagen, und Marie Douglass starb kurz darauf. Sie wurde im Wald von einem Wolf angefallen. Es ist …«
»… furchtbar«, beendete Ajana den Satz. Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, ging draußen ein prasselnder Schauer nieder. Dicke Hagelkörner bedeckten den Garten innerhalb weniger Augenblicke mit einer eisigen weißen Schicht, und die Frühlingsblumen duckten sich unter der Wucht eines heftigen Unwetters.
»Aprilwetter im Mai!« Laura Evans stand auf und schaltete das Licht ein.
Die Helligkeit vertrieb die bedrohlichen Schatten aus den Winkeln des Zimmers, das beklemmende Gefühl verschwand, und Ajana atmete auf.
»Meine armen Blumen.« Laura Evans warf einen bedauernden Blick in den Garten und setzte sich wieder. »Also, ich für meinen Teil habe genug Schauergeschichten gehört«, sagte sie und griff zur Teetasse.
»Ich auch«, stimmt Kyle Evans seiner Frau zu. »Ich würde gern mehr über Mabh O’Brian erfahren.«
»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beunruhigen«, entschuldigte sich der Anwalt höflich und fuhr in sachlichem Ton fort: »Die Suche nach möglichen Erben ist meist ein aufwändiges und langwieriges Unterfangen. In diesem Fall gestaltete es sich sogar außergewöhnlich schwierig. Vor einem Jahr stieß meine Sekretärin durch Zufall in alten Kirchenakten auf Ihre Taufurkunde, Mr. Evans. So wurden wir auf Sie aufmerksam. Doch da es
Weitere Kostenlose Bücher