Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Ihr großer, alter Plüschbär saß wie immer in dem Korbstuhl vor dem Fenster. Sein sonst so freundliches Gesicht wirkte im Halbdunkel grimmig, so als wollte er sich über die ungewohnte Helligkeit beklagen.
Ajana liebte es, bei Mondlicht einzuschlafen, doch in dieser Nacht drehten sich ihre Gedanken nur um eines – das Runenamulett.
Da es sich ›nur‹ um ein altes, wenn auch sehr wertvolles Schmuckstück handelte, hatten ihre Eltern keinen Grund gesehen, das Erbe abzulehnen. Nach der Unterzeichnung der notariellen Dokumente war Ajana nun die neue, rechtmäßige Besitzerin des außergewöhnlichen Kleinods.
Als Mr. O’Donnell sich am Nachmittag verabschiedet hatte, war er sichtlich erleichtert gewesen, die ›Erbsache O’Brian‹ endlich ad acta legen zu können. Für ihn war der Fall abgeschlossen.
Für Ajana noch lange nicht.
Auch wenn der irische Anwalt sich redlich bemüht hatte, all ihre Fragen zu beantworten, war vieles für sie offen geblieben. Auch die Bemühungen ihres Vaters, der schließlich noch einmal den Karton mit den vergilbten Fotos hervorgeholt hatte, um Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen, blieben erfolglos. Alles, was sie herausgefunden hatten, war, dass Mabh O’Brian auf dem Foto nicht das Erbstück, sondern eine Kette aus Perlen trug.
Jetzt lagen das Foto und die unscheinbare Schachtel mit dem wertvollen Inhalt neben ihren Geschenken auf dem mondbeschienenen Schreibtisch in ihrem Zimmer.
Welch ein seltsamer Geburtstag, dachte Ajana. Entschlossen schlug sie die Bettdecke zurück, stieg aus dem Bett und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. Ein Glück, dass am nächsten Morgen keine Schule war, so konnte sie wenigstens ausschlafen! Ajana streckte sich, trat vor den Tisch und griff nach der Schachtel mit dem Amulett. Der Blick der jungen Frau auf dem vergilbten Foto schien ihr zu folgen, als sie vorsichtig den Deckel öffnete.
Geheimnisvoll schimmerten die Schriftzeichen im Mondlicht. Der milchig weiße Stein in der Mitte wirkte nun fast durchscheinend, und der winzige rote Punkt darin kam noch deutlicher zur Geltung.
Ein seltsames Erbstück, dachte sie.
Vorsichtig strich Ajana mit dem Finger über die zarten silbernen Runenplättchen, während sie noch einmal an den merkwürdigen Wortlaut des Testaments dachte: »… hinterlasse ich dem ersten weiblichen Nachkommen meines Blutes, der das sechzehnte Lebensjahr vollendet …«
Ajana nahm das Amulett aus der Schachtel und bettete es in ihre Hand. Das warme, vertraute Gefühl, das ihr schon bei der ersten Berührung aufgefallen war, stellte sich augenblicklich wieder ein, und sie verspürte eine angenehme Wärme in der Handfläche. Langsam trat sie ans Fenster und hielt das Schmuckstück ins Mondlicht. Das Silber funkelte, als wäre die Zeit spurlos daran vorübergegangen, und auch die lange Kette glänzte wie neu.
Fünfhundert Jahre!
Ajana erschauerte. Etwas Geheimnisvolles umgab das kunstvoll gearbeitete Kleinod. Es war wie ein Stück Ewigkeit, etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. Es war mehr als die Aura längst vergangener Zeiten, mehr als die Erinnerung an Menschen, die das Amulett ein Stück auf dem langen Weg durch die Jahrhunderte bei sich gehabt hatten, und mehr als nur die Frage, warum es so unberührt wirkte. Es war …
Ein leiser, glockenheller Ton erklang.
Ajana horchte auf, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Sie wartete und lauschte gespannt, doch nichts geschah. Als sie schon glaubte, sich getäuscht zu haben, kehrte der Ton wieder. Sanft wie eine Feder schwebte er durch den Raum, und während er dahinglitt, gesellten sich sanft die anderen wundersamen Klänge hinzu, die sie schon in den letzten Nächten am Einschlafen gehindert hatten. Sie schwebten umher wie ein Windhauch, der traurig schöne Laute mit sich führte, und vereinigten sich schließlich zu einer anrührend klagenden Melodie, die langsam an- und abschwoll und wie ein lebendiges Wesen durch das Zimmer strich.
Es war dieselbe Melodie, die Ajana vordem schon im Traum gehört hatte, doch diesmal verspürte sie keine Furcht. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Tönen, als plötzlich eine wunderschöne Frauenstimme erklang. Zunächst leise, dann immer lauter erhob sie sich aus der Musik und sang so sehnsuchtsvoll, anrührend traurig und voll unerfüllter Hoffnung, dass es Ajana tief berührte. Das Lied brachte eine verborgene Saite in ihr zum Klingen, und ein Teil von ihr fühlte sich der Melodie auf
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