Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
betete sie leise vor sich hin, während sie zwischen den Leibern der Packpferde und den voll beladenen Planwagen Ausschau nach dem dunkelhäutigen Küchenjungen hielt.
Langsam zog der Tross an ihr vorbei, aber Abbas war nirgends zu sehen. Als sie die Hoffung schon fast aufgegeben hatte, entdeckte sie endlich das vertraute Gesicht inmitten des Heerzugs.
»Abbas!« In einem Anflug überschwänglicher Herzlichkeit stürmte sie mitten in den Tross hinein, breitete die Arme aus und zog den völlig verdutzten Wunand an sich. »Oh, Abbas«, rief sie atemlos und sichtlich ergriffen. »Ich …«
Jemand lachte im Vorbeigehen, und sie fühlte, wie Abbas sich aus der Umarmung zu befreien versuchte. Abrupt ließ sie ihn los. »Nun, Abbas.« Kelda räusperte sich und kämpfte darum, die Fassung zu bewahren. »Nun, Abbas«, sagte sie noch einmal, und diesmal gelang es ihr endlich, jene Kühle in die Stimme zu legen, die Abbas von ihr gewohnt war. »Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«
Der junge Wunand starrte sie ungläubig an.
»Ja, ich wollte dir nur sagen …«
… dass ich mir große Sorgen um dich mache … dass du gut auf dich aufpassen sollst … dass ich dir alles Gute wünsche … dass ich dich nicht verlieren will … dass ich …
Es gab so vieles, das sie noch hätte sagen wollen. Zu viel!
In der resoluten Art, mit der sie das Küchenpersonal zu führen gewohnt war, fasste sie Abbas bei den Schulten, sah ihm fest in die Augen und sagte: »Mach es gut, Junge!« Dann drehte sie sich um und hastete davon.
Abbas blickte ihr verwundert nach. Gefolgt von unzähligen Kindern, die sich von den Händen ihrer Mütter losgerissen hatten, bog er mit den Letzten des langen Heerzuges auf den Weg vor dem großen Tor ein, der sich nordwärts durch die von Purpurheide bewachsene Ebene schlängelte und am Horizont in ein dichtes Waldgebiet mündete.
Als er die Stadt verließ, sah er gerade noch, wie die Kundschafter die Falken aufließen, damit sie dem Heer auf ihre Weise folgten. Begleitet von den begeisterten Rufen der Kinder, erhoben sich die stolzen Vögel in einer dichten Wolke schlagender Flügel in die Lüfte und flogen den Marschierenden voraus, auf den fernen Wald zu. Abbas sah ihnen kurz nach, dann marschierte auch er auf den steinigen Windungen des Pfades dem fernen Pandarasgebirge entgegen.
Die Geräusche der Stiefel und Hufe verklangen in der Ferne, die bunten Fahnen und Banner vereinigten sich mit den dunklen Farben der Umhänge, und nur selten brach sich ein Sonnenstrahl auf einem Schild oder einer Waffe.
Die Trommeln verstummten. Die Kinder kehrten betrübt zurück, und die Menschen Sanforans begaben sich leise auf den Heimweg. Kein Lachen und kein Gespräch durchbrachen die lastende Stille, die sich plötzlich wie ein Bahrtuch über die Hafenstadt legte. Es hatte fast den Anschein, als wäre Sanforan bereits zu dem geworden, was die Krieger unter Einsatz ihres Lebens zu verhindern suchten: zu einer Geisterstadt.
Es klingelte, und Kyle Evans öffnete.
Ein sympathisch wirkender junger Mann mit kurzem schwarzem Haar und einem sorgsam glatt rasierten Gesicht lächelte ihn an. Er war in einen dunkelgrauen Anzug mit dezenter Krawatte unter einem offen getragenen, hellen Trenchcoat gekleidet. In der Hand hielt er eine Aktentasche aus schwarzem Leder. »Mister Evans?«, fragte er freundlich, und Kyle Evans nickte. »Erin O’Donnell«, stellte er sich vor und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin der Nachlassverwalter von Mabh O’Brian.«
Ajanas Vater erwiderte den Händedruck. »Bitte, kommen Sie herein. Wir haben Sie schon erwartet«, sagte er und machte eine einladende Geste.
Fünf Minuten später saßen Ajana, ihre Eltern und Mr. O’Donnell auf der sandfarbenen Sitzgruppe im Wohnzimmer. Kyle Evans unterhielt sich angeregt mit Mr. O’Donnell, während Laura Evans die Tassen mit duftendem Tee füllte und Ajana voller Ungeduld die Zeiger auf der alten englischen Standuhr verfolgte, die sich quälend langsam bewegten.
Endlich öffnete der Anwalt die Aktentasche und zog einen dicken blauen Ordner heraus. Behutsam legte er ihn vor sich auf den Tisch und sagte mit gemessener Stimme: »Bevor ich mit der Testamentseröffnung beginne, möchte ich Ihnen kurz noch etwas über die verstorbene Mrs. O’Brian erzählen.« Er schenkte Ajana, die sich vor lauter Ungeduld wieder eine Haarsträhne um den Finger wickelte, ein verständnisvolles Lächeln und wandte sich dann ihrem Vater zu.
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