Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
keine weiteren Unterlagen gab, fanden wir erst vor zwei Wochen heraus, wo Sie leben.«
Vor zwei Wochen … Ajana wurde hellhörig. Eigenartig. Hatten diese seltsamen, lebensbedrohlichen Zwischenfälle nicht auch vor zwei Wochen begonnen? War es nicht genau zwei Wochen her, dass sie den seltsamen Pfeifton zum ersten Mal gehört hatte? Ein Fluch! Sollte sie wirklich etwas erben, auf dem ein Fluch lag? Ein tödliches Erbe? Ajana erschauerte. In diesem Augenblick brach die Sonne wieder hinter den Wolken hervor. Goldenes Licht flutete in das Wohnzimmer, vertrieb die Düsternis und schmolz die frostigen Hagelkörner auf dem Rasen dahin.
Reiß dich zusammen!, ermahnte Ajana sich in Gedanken. Ein Erbe, auf dem ein Fluch liegt … So etwas gibt es doch nur im Film! Sie konzentrierte sich wieder auf die Worte des Anwalts und das, was er noch über Mabh O’Brian zu berichten wusste.
»… alle, die sie bis zuletzt betreuten, bewunderten ihren eisernen Lebenswillen«, hörte sie Mr. O’Donnell gerade sagen. »Obwohl weitere Schlaganfälle sie unbeweglich, taub und letztlich dann auch stumm gemacht hatten, bot sie dem Tod beharrlich die Stirn. Eine Pflegerin schilderte meinem Vater ihre letzten Monate. Sie hatte das Gefühl, dass die alte Dame einfach nicht sterben wollte, gerade so als gäbe es etwas, das sie noch an diese Welt band … eine Aufgabe, die sie noch nicht erfüllt hatte. Ob die Pflegerin sich das nur einbildete, werden wir leider niemals erfahren. Am Ende war der Tod stärker.« O’Donnell griff nach der Dokumentenmappe und öffnete sie mit den Worten: »Aber nun zum letzten Willen von Mabh O’Brian.«
Endlich! Ajana spürte, wie ihr Herz vor Aufregung pochte, und rutschte näher an den Tisch heran. Aufmerksam verfolgte sie jede Bewegung des Anwalts, der in einem dicken Stapel gebundener Blätter umständlich nach der richtigen Seite suchte.
»Ah, hier ist es!«, sagte er schließlich, zog ein einzelnes Blatt aus den Papieren hervor und schob es Kyle Evans zu. »Falls Sie den Wortlaut im Original verfolgen möchten, hier bitte.«
»Danke.« Ajanas Vater vertiefte sich in das Dokument, während Mr. O’Donnell den letzten Willen der Mabh O’Brian verlas. »Meinen wertvollsten Besitz, ein Runenamulett, hinterlasse ich dem ersten weiblichen Nachkommen meines Blutes, der das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat. Dabei sei durch den Nachlassverwalter strengstens darauf zu achten, dass seitens der Erbin eine direkte Blutsverwandtschaft zu meiner Mutter Esther O’Brian besteht. Sollte diese Blutslinie über einen längeren Zeitraum nur männliche Nachkommen hervorbringen, so ist das Amulett von dem Nachlassverwalter oder dessen Erben so lange sicher zu verwahren, bis die rechtmäßige Erbin gefunden ist.«
»Ein Runenamulett?«, fragte Ajanas Mutter ungläubig. »Demnach erbt meine Tochter ein altes Schmuckstück.«
»Ja, ein sehr altes!« Mit bedeutsamer Miene zog Mr. O’Donnell ein kleines Etui aus dem Aktenkoffer und legte es vor sich auf den Tisch. »Mein Vater ließ das Schmuckstück schätzen«, erklärte er, während er das Etui in die Mitte des Tisches schob, sodass es für alle gut zu sehen war. »Es dürfte mindestens fünfhundert Jahre alt sein.«
Fünfhundert Jahre! Ajana stand auf, stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich weit nach vorn und verfolgte gespannt, wie der Anwalt den Deckel hob.
Das Etui war innen mit glänzendem dunkelblauem Seidenpapier ausgelegt. Darauf ruhte das wertvolle Kleinod. Das Herzstück bildete ein weißer Halbedelstein von unvergleichlicher Schönheit, der in der Mitte des Amuletts leuchtete. Kleine Schlaufen aus filigran gearbeitetem Silberdraht umrahmten den Stein wie die Blütenblätter einer Blume und wanden sich an einer Seite in verschlungenen Bögen zu einem kurzen Stiel zusammen. In jede Schlaufe eingebettet lag ein schimmerndes Silberplättchen mit Gravuren in einer seltsamen Schrift. Gehalten wurde das Amulett von einer langen silbernen Kette, deren Glieder kunstvoll ineinander verwoben waren.
Schon beim ersten Anblick fühlte sich Ajana wie magisch zu dem Schmuckstück hingezogen. Fast zwanghaft streckte sie die Hand danach aus, um es zu berühren, hielt aber im letzten Moment inne und fragte: »Darf ich es herausnehmen?«
»Gern.« Mr. O’Donnell nickte. »Es gehört jetzt Ihnen.«
Mit angehaltenem Atem führte Ajana die Hand zu dem Amulett. Als ihre Finger das glänzende Silber berührten, durchzuckte sie ein leichter elektrischer Schlag.
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