Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
und einem Text, den ich nicht lesen konnte. Aber es ist nicht mehr da«, sagte sie bedauernd. »Vermutlich ist es noch …«
»In deiner Welt?«, beendete Inahwen den Satz an Ajanas Stelle.
Ajana nickte. »Es lag vor mir auf dem Klavier, als ich die Noten abspielte.«
»Seltsam sind die Wege des Schicksals.« Inahwen seufzte. »Das Lied und das Amulett gehören untrennbar zusammen. Das Lied kann den Nebelzauber nicht ohne die Hilfe des Amuletts wirken, doch ohne den Text des Liedes zu kennen, ist auch das Amulett machtlos.« Ein Schatten huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht, und Ajana spürte, dass sie es plötzlich sehr eilig hatte. »Habe ein wenig Geduld«, bat Inahwen nun wieder freundlich und erhob sich. »Ich weiß, es ist viel verlangt, dich gerade jetzt darum zu bitten, wo du so viele Fragen hast. Doch ich bin wahrlich nicht die Richtige, dir zu antworten. Lass mir ein wenig Zeit, meinen Bruder Gathorion von deiner Ankunft zu unterrichten und davon, dass du, anders als jene, die vor dir kamen, nicht mit der Aufgabe vertraut bist, die das Erbe dir auferlegt. Bisher wurde das Amulett stets von der Mutter auf die Tochter weitergegeben, und mit ihm auch alle Weisungen, die notwendig sind, um das Erbe anzutreten. Nie zuvor gelangte eine Nebelsängerin zu uns, die sich ihrer Aufgabe nicht bewusst war. Ich habe keine Kunde davon, was sich in deiner Welt zugetragen haben mag, dass die Erbfolge unterbrochen wurde, doch die Auswirkungen für Nymath hast du mit eigenen Augen gesehen. Die Magie der Nebel ist erloschen, und die Uzoma konnten die Gefilde verlassen, in die sie einst verbannt wurden. Seitdem herrscht Krieg in Nymath. Ein blutiger Krieg, den zu gewinnen wir kaum noch zu hoffen wagten.« Sie lächelte Ajana an. »Doch nun bist du gekommen, und mit dir kehrt auch eine große Hoffnung zurück in unser Land. Verzeih mir, aber es ist meine Pflicht, diese Botschaft weiterzugeben. Mein Bruder wird wissen, was zu tun ist, und dafür sorgen, dass auch deine Fragen so bald wie möglich beantwortet werden. Und zwar von jemandem, der die Geschichte des Amuletts besser kennt als ich. Ich spüre deine Unruhe und verstehe dich, und dennoch bitte ich dich um ein wenig Geduld.«
Obwohl Ajana nicht zufrieden mit dem Wenigen war, das sie von Inahwen erfuhr, lächelte sie höflich. Die Worte der Elbin hatten tatsächlich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, aber sie schwieg und beobachtete stumm, wie Inahwen sich erhob. »Ich werde nicht lange fort bleiben«, erklärte die Elbin. »Wenn mein Bruder davon erfährt, wird er dich sicher gleich sehen wollen.« Sie maß Ajana mit einem nachdenklichen Blick. »Fühlst du dich schon kräftig genug, um mit ihm zu sprechen?«
»Wenn hinter alledem wirklich ein höherer Sinn liegt, wie Ihr es sagt, werde ich die Kraft dazu finden«, behauptete Ajana, und der Ausdruck in ihren Augen ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.
Zum zweiten Mal, seit das Heer die Festung erreicht hatte, breitete die Nacht ihre schwarzen Schwingen über das Gebirge. Nebel kroch über die Ebene am Fuß der Festungsanlage und bedeckte die Landschaft wie ein wogendes Meer, aus dem sich die Grabhügel der Gefallenen wie kleine dunkle Inseln im Schein des Kupfer- und des Silbermondes erhoben.
In ihren wärmenden Umhang gehüllt, schritt Maylea allein durch die Einsamkeit des Gräberfeldes. Ihr von Bitternis gezeichneter Blick huschte rastlos über die kalten Ruhestätten jener, die ihr Leben im Kampf gegen die Uzoma verloren hatten und deren Leiber nun dicht gedrängt in eilig ausgehobenen Gräbern ruhten.
Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und lief Maylea langsam über die Wange. Wie ein flüssiger Kristall funkelte sie im Mondlicht und hinterließ eine glänzende Spur auf ihrer dunklen Haut, bis eine beiläufige Handbewegung sie jäh hinwegwischte.
Maylea ging weiter. Wie ein suchender Geist schritt sie durch die Nebel, das Gesicht verzerrt von Gefühlen, deren Qual stumm nach Erlösung schrie. Als sie fand, wonach sie suchte, hielt sie inne und sank auf die Knie. Ihre Hände berührten die feuchte Erde des aufgeworfenen Grabhügels, an dessen Ende eine Feuerpeitsche daran erinnerte, dass hier Amazonen der Wunand ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Maylea erschauerte. Ihre Schultern bebten vor unterdrückten Schluchzern, und ihre Lippen bewegten sich stumm, als sie um Worte rang, die nicht hervorkommen wollten. Schließlich beugte sie sich vor, presste die
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