Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
aufrechterhalten hatte, und ein Strom von Tränen bahnte sich den Weg. Weinend sank sie in die Arme der Elbin, die sich ihr mitfühlend entgegenstreckten.
Als Ajana sich wieder gefangen hatte, reichte Inahwen ihr ein fein gewebtes Tuch, mit dem sie ihr tränenfeuchtes Gesicht trocknen konnte, und sprach: »Es liegt nicht in meiner Macht, dir den Weg zurück zu weisen, Ajana. Doch wenn du mir vertraust, kann ich versuchen, dir zu helfen. Vielleicht wirst du dann verstehen.«
»Was verstehen?« Ajanas Stimme bebte.
»Du trägst etwas bei dir, das du vor uns verbirgst«, sagte Inahwen sehr bestimmt. Nichts in ihren Augen deutete darauf hin, ob sie sich dessen so sicher war, wie ihre feste Stimme glauben machte, oder nur eine Vermutung aussprach. Doch Ajana hatte keine Kraft mehr für eine ausweichende Antwort. Betreten schaute sie zu Boden und nickte dann matt.
»Zeigst du es mir?« Die Stimme der Elbin war sanft und freundlich, doch es lag auch eine gespannte Erwartung darin, die Ajana sich nicht erklären konnte.
»Es ist in meiner Tasche«, sagte sie tonlos, während sie sich umwandte und in ihrem Kleiderbündel, das am Kopfende des Strohsacks lag, nach etwas suchte. »Die Krieger, die mich gefangen nahmen, schienen es zu fürchten«, berichtete sie. »Einer von ihnen verbrannte sich die Hand daran. Vielleicht könnt Ihr mir sagen, was es damit auf sich hat.« Während sie sprach, zog sie das Amulett an der silbernen Kette aus dem Bündel hervor. Die Runenplättchen funkelten im Licht der Öllampe, der Mondstein schimmerte geheimnisvoll, und weit in der Ferne glaubte Ajana wieder die traurige Melodie zu hören, die sie in dieses Land geführt hatte.
»Heilige Mutter allen Lebens!« Ehrfürchtig streckte Inahwen die Hand aus und nahm das Kleinod in Empfang. Für einen Augenblick fürchtete Ajana, auch sie könne sich daran verbrennen, doch nichts geschah. »Das Amulett der Nebel«, hauchte Inahwen und fügte feierlich hinzu: »Gaelithils Amulett.« Aufmerksam betrachtete sie es von allen Seiten und fragte dann: »Wie kam es zu dir?«
»Es ist ein Erbstück von meiner Tante«, erklärte Ajana, froh, endlich jemandem alles erzählen zu können. »Eigentlich war sie nicht meine Tante, sondern die Großtante meines Vaters«, sprudelte es aus ihr hervor. »Ich kannte sie gar nicht. Sie war schon sehr alt. Über hundert Jahre. Im Testament stand, dass ich es bekomme, weil ich die einzige weibliche Nachkommin ihres Blutes bin. Ich habe keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, aber ich finde es sehr schön …«
»Mabh.«
»Wie bitte?«
»Mabh.« Inahwen lächelte. »So war ihr Name, nicht wahr?«
»Ja.« Ajana starrte die Elbin fassungslos an. »Aber woher …?«
»Woher ich das weiß?«, griff Inahwen die Frage auf. »Nun, ich kannte sie. Du musst wissen, dass uns Elben die Gnade eines langen, sehr langen Lebens vergönnt ist.«
»Ihr kanntet sie?« Es dauerte eine Weile, bis Ajana die ganze Tragweite dieser Worte begriff. »Dann … dann ist sie also auch hier gewesen?«
»O ja, das war sie.« Inahwen reichte das Amulett an Ajana zurück. »Vor langer, langer Zeit. Sie kam zu uns, um ihr vorbestimmtes Erbe anzutreten und die Magie der Nebel an sich zu binden, wie es die Tradition verlangt.«
»Nebel … Magie … Tradition?« Ajana war deutlich anzusehen, dass sie mit den Worten nichts anzufangen wusste. Aber die Gewissheit, dass auch Mabh einst in diesem seltsamen Land gewesen war, machte ihr Mut. Immerhin konnte Mabh nicht für immer hier geblieben sein. Eine Rückkehr war für sie demnach möglich. Hoffnung lag in ihrem Blick, als sie die letzte Träne fortwischte und die Elbin anschaute. »Erzählt mir von ihr.«
»Das würde ich gern, doch ich fürchte, dass alles, was ich dir sage, mehr Fragen aufwerfen wird, als ich dir beantworten kann.« Sie lächelte entschuldigend. »Zu wenig ist es, was ich über das Amulett und seine Bedeutung sagen kann. Doch erfüllt es mein Herz mit großer Freude, es hier in Nymath zu wissen, denn es ist das Licht der Hoffung, von dem wir glaubten, es nie wieder zu sehen.«
»Bitte, nur ein wenig«, flehte Ajana, ohne auf die Worte der Elbin einzugehen. »Ihr kanntet sie doch. Bitte erzählt mir, was Ihr wisst.«
»So hat man dir nichts über deine Bestimmung erzählt?« Zwischen Inahwens Brauen bildete sich eine kleine steile Falte. »Gibt es nichts, das Mabh dir hinterließ außer diesem Amulett?«
»Nein. Das heißt, doch. Da war noch ein Blatt Papier mit Noten
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