Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
zeigte.«
»Ich muss das Mädchen unbedingt sehen.« Gathorion erhob sich, trat zu Inahwen und ergriff die Hand seiner Schwester. In seinen Augen glomm das Feuer einer neu erstarkten Hoffnung, und seine Stimme war voller Zuversicht, als er weitersprach. »Wenn sie wirklich die Nebelsängerin ist, auf die wir so lange gewartet haben, gibt es neue Hoffnung. Durch sie wird endlich wieder Frieden herrschen in Nymath.« Er schloss die Hand fester um die seiner Schwester, lächelte verhalten und sagte: »Ich habe nie wirklich aufgehört, an die Prophezeiung zu glauben, aber ohne dich …«
»Warte!« Inahwen hob Einhalt gebietend die Hand. »Noch ist nichts bewiesen. Und selbst wenn sie die Nebelsängerin ist, wissen wir nicht, ob sie uns auch beistehen kann. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen erwartet sie eine ungleich schwierigere Aufgabe, an der sie vielleicht sogar scheitern könnte. Während es den anderen oblag, Gaelithils Magie an sich binden, steht ihr die Aufgabe bevor, die magischen Nebel gänzlich neu zu weben. Und das in einem Land, das bereits fest in den Händen der Uzoma ist! Doch nicht nur die Aufgabe, auch die Voraussetzungen, unter denen sie den Weg hierher fand, unterscheiden sich grundlegend von denen der anderen. Sie kennt ihr Erbe, nicht aber ihre Bestimmung. Niemand hat sie in die Bedeutung des Amuletts eingeweiht, niemand sie auf Nymath vorbereitet. Das Amulett kam zu ihr als ein gewöhnliches Schmuckstück, denn die letzte Nebelsängerin starb, bevor sie das Erbe weitergeben konnte. Ajana ahnt nicht, welch ungeheure Pflicht das Schicksal ihr auferlegt hat. Ihr sehnlichster Wunsch ist nur, nach Hause zurückzukehren.«
»Du hast Recht. Verzeih.« Gathorion zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Wenn es so ist, wie du sagst, sollten wir uns wahrlich davor hüten, zu große Erwartungen in sie zu setzen.«
»Das denke ich auch.« Inahwen nickte. »Nur einige Auserwählte sollten erfahren, dass die Nebelsängerin zurückgekehrt ist. In unserer Lage falsche Hoffungen zu wecken könnte fatale Folgen haben. Besser, die Krieger erfahren nichts davon. Wir wissen weder, ob sie willens ist, uns zu helfen, noch ob sie die nötigen Fähigkeiten dazu besitzt.«
»Ich werde mit ihr reden.« Gathorion stand auf und reichte Inahwen die Hand. »Lass uns zu ihr gehen.«
»Ajana?« Eine Hand berührte achtsam ihre Schulter und rüttelte sie sanft wach.
»Ajana, ich bin zurück. Wach auf.«
»Lass mich … ich will nicht zur Schule.«
»Wach auf.« Wieder rüttelte sie die Hand, diesmal kräftiger. Ajana schlug die Augen auf und schaute in Inahwens ebenmäßiges Gesicht. »Oh.« Nur langsam wurde ihr bewusst, wo sie war. »Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich … ich habe geträumt.«
»Schon gut.« Inahwen lächelte, setzte sich neben Ajana auf den Strohsack und deutete auf den Elbenprinz, der hinter ihr stand. »Das ist Gathorion, mein Bruder. Ich habe ihm bereits von unserem Gespräch erzählt. Er weiß …«
»Aha.« Ajana setzte sich auf, zog die Knie dicht an den Körper und schlang die Arme darum. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so wartete sie zunächst ab, bis auch der Elb sich setzte und Inahwen erneut zu sprechen begann. »Zeigst du ihm das Amulett?«, fragte die Elbin sanft.
»Ja.« Ajana griff nach ihrem Bündel und holte das Kleinod vorsichtig hervor.
»Gaelithils Amulett. Dem wandernden Stern sei Dank.« Der Elb betrachtete das Schmuckstück aufmerksam von allen Seiten. »Was weißt du darüber?«
»Nur das, was ich schon gesagt habe«, erwiderte Ajana und wiederholte, was sie zuvor Inahwen erzählt hatte.
»Und was weißt du noch?«, wollte Gathorion wissen.
»Nicht viel mehr«, erklärte Ajana wahrheitsgetreu. »Es war noch ein Blatt Papier dabei. Mit Noten. Ich spielte sie am Klavier, dann erwachte ich irgendwo dort draußen.«
»Was sagen dir diese Zeichen?« Gathorion deutete auf die silbernen Plättchen des Amuletts.
»Nichts.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Bei den Göttern.« Gathorion warf Inahwen einen betroffenen Blick zu. Dann erhob er sich und tauschte mit ihr den Platz, um dichter bei Ajana zu sitzen. »Das sind Runen«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Magische Zeichen, welche die Fähigkeit besitzen, verborgene Kräfte in uns zu wecken oder vorhandene zu stärken. Manche bieten uns auch Schutz, so wie diese hier, die wir Algiz nennen.« Er deutete auf eine Rune in Form eines Ypsilons mit einem durchgehenden senkrechten Strich in der
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