Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
zu hören. Sie sah Rowens Zigarette glimmend im Aschenbecher liegen, und was sie früher stets zur Weißglut gebracht hatte, erschien ihr plötzlich wie eine kostbare Erinnerung. Und sie fühlte die Hand ihrer Mutter, die ihr manchmal vor dem Einschlafen sanft über die Wange strich …
Seltsamerweise war es diese Berührung, die sie aus dem Dämmerschlaf der Erinnerungen riss. Eine Berührung, die so weit entfernt und vergangen schien und sich doch so wirklich und wahrhaftig anfühlte, dass …
Mit klopfendem Herzen öffnete Ajana die Augen, aber das Gesicht, das sie voller Güte anlächelte, hatte nichts mit dem ihrer Mutter gemein. Es war Inahwen, die neben ihr auf dem strohgefüllten Sack saß. »Fühlst du dich besser?«
Ajana sah, wie sich die Lippen bewegten, und hörte die warme, freundliche Stimme der Elbin, doch die Ernüchterung nach der Flut der Erinnerungen machte es ihr schwer zu antworten. »Ich … ich … ja«, stammelte sie, schüttelte dann aber den Kopf »Nein.«
Inahwen deutete auf die Öllampe, deren tanzende Flamme den Raum rings um die Schlafstatt in ein warmes Licht tauchte. »Es war dunkel. Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich sie entzündet habe.«
»Es spielt keine Rolle, ob es hell oder dunkel ist«, murmelte Ajana, zog sich die wollene Decke bis zum Kinn und drehte der Elbin den Rücken zu, in der Hoffnung, dass sie die ablehnende Geste richtig verstand. Sie wollte niemanden sehen und mit niemandem sprechen und hätte Inahwen am liebsten gebeten zu gehen.
Doch diesmal gab die Elbin nicht nach. »Du hast Kummer«, stellte sie fest. »Großen Kummer.«
»Ist das ein Wunder, wenn man seine Familie und seine Heimat verloren hat?« Obwohl Ajana keinen Groll gegen Inahwen hegte, schwang ein ärgerlicher Tonfall in den Worten mit.
»Nein, das ist es nicht.« Inahwen legte die Hand sanft auf Ajanas Schulter. »In diesen dunklen Zeiten müssen Unzählige Abschied nehmen von denen, die sie lieben, und die Gefilde verlassen, die sie über Generationen ihre Heimat nannten.«
»Das ist doch etwas ganz anderes.« Noch während Ajana sprach, spürte sie, dass sie besser geschwiegen hätte. Nun war es zu spät, die Worte waren den Lippen bereits entglitten.
»Ist es das?«, hakte die Elbin nach. »Gibt es denn zweierlei Arten von Schicksalsschlägen? Schlimme und weniger schlimme?«
»Nein«, erwiderte Ajana mit fester Stimme und fügte dann leise hinzu: »Aber es gibt solche, die man versteht, und solche, die einem unbegreiflich sind.«
»So wurde dir ein unbegreifliches Schicksal zuteil?«, forschte die Elbin weiter.
Ajana schwieg. Sie spürte, dass sie sich mit jedem Satz weiter in eine Richtung bewegte, die sie nicht einschlagen wollte. Zugleich war ihr klar, dass die Elbin sie ganz geschickt eben dorthin führen wollte.
»Erinnerst du dich daran, was ich dir am Imlaksee sagte?«, fragte Inahwen. »In Zeiten der Dunkelheit genügt eine Kerze, um das strahlende Tageslicht nicht zu vergessen«, wiederholte sie ihre Worte. »Eine solche Kerze brennt für jeden, auch wenn wir ihr Licht vor Kummer zunächst nicht sehen. Aber wenn wir die Augen öffnen, wenn wir bereit sind zu hoffen, dann wird ihr Licht uns durch die Dunkelheit leiten, bis die Finsternis überwunden ist.«
»Diese Kerze gibt es für mich nicht.« Ajana starrte noch immer die Wand an und rührte sich nicht. Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, aber das wollte sie sich nicht eingestehen.
»Bist du sicher?«
»Ja!« Ajana legte allen Trotz, den sie aufbringen konnte, in das eine Wort, um zu überspielen, wie es wirklich in ihr aussah. Ich wünschte, ich wäre tot … tot … tot. Der Gedanke kam ihr von ganz allein, und obwohl sie ihn nicht gerufen hatte, spürte sie die verlockende Macht in den Worten. Der Tod konnte sie aus diesem Albtraum befreien, allen Schrecknissen ein Ende setzen und …
»Sich den Tod zu wünschen ist keine Lösung«, hörte sie Inahwen sagen, als hätte diese ihre Gedanken gelesen.
»Was wisst Ihr schon von Lösungen?« Ajana schnellte herum und setzte sich auf. In ihren Augen standen Tränen. »Ich habe nichts zu tun mit diesem Krieg und auch nicht mit diesem Land. Es ist mir gleich, was hier geschieht und wer die Schlacht gewinnt. Ich wollte nicht hierher, und ich will hier nicht bleiben. Ich … ich wollte … Ich will«, sie schluchzte laut auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich will nur zurück nach Hause.« Die letzten Worte brachen den Damm, den Ajana so krampfhaft
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