Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
stets zur rechten Zeit am rechten Ort.
Die Magun stieg hinein, und das Boot glitt wie von Geisterhand auf den Strom hinaus. Der Fluss des Lebens war ein friedliches, aber auch schauerliches Gewässer. Er trug die Seelen der Toten zu den sagenumwobenen Orten, die zu erreichen ihnen allein gestattet war und deren Geheimnisse nicht einmal die Götter kannten.
Als die Magun auf die schillernde Wasseroberfläche blickte, konnte sie darunter die verzerrten Abbilder jener erkennen, deren Seelen die lange Reise gerade begonnen hatten. So nahe an der Welt der Sterblichen wirkten ihre Züge noch menschlich, doch ihre Erinnerung an den Körper, der sie beherbergt hatte, verblasste schnell, und je weiter der Strom sie trug, desto schauriger wurde der Anblick.
Die Magun konnte die Augen von den vorbeiziehenden Bildern der Verstorbenen nicht abwenden. Die meisten von ihnen wirkten noch jung, waren aber von Krankheit und Darben gezeichnet. Andere waren Krieger, die ihren grauenhaften Verletzungen erlegen waren, oder junge Frauen, deren blutige Schenkel davon zeugten, dass sie ihr Leben gegeben hatten, um neues zu schenken. Sie sah halbwüchsige Mädchen im blutgetränkten andaurischen Opfergewand und einen jungen Mann, der sich ein Messer in die Brust gestoßen hatte. Jede Gestalt, die, im Augenblick des Todes erstarrt, nun unter dem kleinen Boot dahintrieb, barg eine eigene traurige Geschichte in sich und zeugte von einem Ende, dessen Schrecken allein die gemarterte Seele zu ermessen vermochte.
Es war eine grausame Welt, aus der der Tod die gepeinigten Seelen erlöste. Die gleiche und doch eine gänzlich andere als diejenige, die sie vor langer Zeit betreten hatte. Als sie einst als Tochter einer Göttin diese Gestade verlassen hatte, da hatte sie im Wasser vornehmlich die Bilder friedlich Entschlafener vorgefunden. Alte und Kranke zumeist, die ein gnädiger Tod von langem Siechtum erlöst hatte, und niemals ein geopfertes Kind.
Erschauernd wandte die Magun sich ab. Die Not und das Elend der geknechteten Völker mussten ein Ende haben. So wie sie es in Nymath bereits getan hatte, würde sie sich auch fortan um das Wohlergehen der Menschen sorgen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um dem schrecklichen Irrglauben in Andaurien ein Ende zu bereiten.
Sie hatte den Gedanken eben zu Ende geführt, als das Boot sanft und geräuschlos am anderen Ufer des Flusses aufsetzte.
Sie war am Ziel!
Die Magun erhob sich und setzte die bloßen Füße auf den weichen, schneeweißen Sand, der das Ufer an dieser Stelle säumte. Die schmeichelnden Berührungen des feinen Erdreichs unter ihren nackten Sohlen waren ihr wohl vertraut und vermittelten ihr aufs Neue das Gefühl, kaum mehr als nur einen Herzschlag lang fort gewesen zu sein.
Dennoch, es hatte sich etwas verändert.
Etwas lag in den Nebeln, dessen sie sich nicht erinnern konnte. Es war nur schwer in Worte zu fassen, und doch verspürte die Magun eine Unruhe in sich wachsen. Die Nebel schienen eine Spur dichter und dunkler zu sein und die vollkommene Stille um einen Hauch tiefer als bei ihrem Aufbruch. Dazu kamen die Gefühle von Trauer und Freudlosigkeit, die nun dort lasteten, wo zuvor noch Heiterkeit geherrscht hatte.
Die junge Göttin blieb stehen und sah sich um. Von der Freude und dem Glück, die sie kurz zuvor noch erfüllt hatten, war nichts geblieben. Was sie nun spürte, waren Zweifel, eine tiefe Besorgnis und das beunruhigende Gefühl von drohender Gefahr.
Die Magun zögerte. In den langen, einsamen Wintern im Herzen des Waldes hatte sie gelernt, darauf zu achten, was ihre innere Stimme ihr riet – und diesmal gemahnte sie sie zur Vorsicht.
Langsam bewegte sie sich vom Ufer fort auf die Nebelwand zu, die sich nur wenige Schritte entfernt so bedrohlich zusammenballte, als wolle ihr etwas oder jemand den Weg zu den heiligen Hallen versperren.
Zum ersten Mal seit langem spürte die junge Göttin wieder den Zorn in sich, der für sie einst so verhängnisvolle Folgen gehabt hatte. Doch anders als damals, hatte sie in den langen Wintern gelernt, sich zurückzunehmen.
Äußerlich ruhig und gefasst, schritt sie erhobenen Hauptes auf die Nebel zu. Sie wusste um das Schicksal der Körperlosen, die in den Nebeln hausten, aber sie fürchtete sich nicht. Kaum drei Schritte von der Nebelwand entfernt, hielt sie inne und sagte streng: »Wer seid ihr, dass ihr es wagt, mir den Weg zu versperren?«
Niemand antwortete.
Die Körperlosen waren rastlose Seelen, die den Fluss des
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