Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
jungen Uzoma gegenüber. Ganz im Gegenteil – sie mochte sie. Faizah war ebenso wenig schuld an dem Krieg wie Keelin, Artis oder Maylea. Wie alle hier, war auch sie nur eine Figur im großen Spiel des Schicksals, hineingeboren in eine archaische Welt und gefangen in den Regeln und Wertvorstellungen, die zu werten Ajana nicht zustand.
Vorsichtig legte sie das zitternde Lavinci in die Schultertasche zurück und gab eine weitere Pacunuss als Wegzehrung mit hinein. Dann half sie Faizah auf, schulterte ihr Bündel und folgte den anderen in einen weiteren finsteren Stollen hinein.
Selbstbewusst und so zielstrebig, als sei sie niemals fort gewesen, schritt die Magun durch das dämmrige Zwielicht der nebelverhangenen Welt, die das Reich der Sterblichen von dem der Götter trennte.
Es war eine graue, trostlose Welt, angefüllt mit wallenden Nebeln und so kalt wie der Atem des Todes. Fremde mochten sie als bedrohlich empfinden, doch die Magun wusste, dass es hier nichts gab, wovor sie sich fürchten musste.
Mit jedem Schritt kehrten weitere Erinnerungen zurück, und sie verspürte eine brennende Vorfreude, als sie sich die prunkvolle, von Licht durchflutete Halle ins Gedächtnis rief, in der sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester dereinst gelebt hatte. Und als wäre es gestern gewesen, glaubte sie in der lastenden Stille noch einmal die Stimme ihrer Mutter zu hören, die voller Zorn, aber auch mit Trauer zu ihr gesprochen hatte, ehe sich die Weltentore für lange Zeit hinter ihr schlossen: »Wenn du zur Einsicht gekommen bist und die Strafe, die ich dir für deinen Ungehorsam auferlege, abgegolten ist, dann wird sich dieses Tor auch für dich wieder öffnen.«
Die Magun lächelte. Ja, sie war zur Einsicht gekommen. Unzählige Male hatte sie in Nymath den Kummer erleiden müssen, vor dem ihre Mutter sie damals hatte bewahren wollen, hatte in einem nicht enden wollenden Martyrium Abschied nehmen müssen von denen, die sie liebte, und unter Tränen jene zu Grabe getragen, denen sie ihr Herz geschenkt hatte. Sie hatte mit ansehen müssen, wie sich die Zeit in die Gesichter der anderen grub, während das ihre nahezu unverändert blieb. Sie hatte Hass und Spott erfahren und gespürt, was es bedeutete, anders zu sein. Schließlich hatte sie sich zurückgezogen von dem Leben, nachdem sie sich einst so gesehnt hatte, und wenn sie auch keinen Hass auf die Menschen verspürte, so war ihr die Gesellschaft der Tiere am Ende doch die erträglichste gewesen.
Nun kehrte sie heim. Der ungestüme Zorn der Jugend war einer ruhigen, wissenden Reife gewichen, die Prüfung, die ihre Mutter ihr auferlegt hatte, bestanden und die Strafe abgegolten. Das Tor hatte sich für sie geöffnet, ganz so, wie es ihre Mutter dereinst prophezeit hatte. Alles war gut!
In der heiligen Halle würde man sie mit offenen Armen empfangen und sie wie selbstverständlich in den Kreis der Götter aufnehmen, auf dass sie endlich den ihr vorbestimmten Platz einnehmen könne. Angesichts dieser neuen Erkenntnisse überlegte sie, ob der Hilferuf des Wanderers vielleicht nur ein Vorwand gewesen sein mochte, um sie heimzuholen. Was konnte ihm, der den Göttern so viele hundert Winter diente, hier schon geschehen?
»Die Priesterin des Einen ist fest entschlossen zu vollenden, was sie begonnen hat …« Ganz unvermittelt kamen ihr die Worte des Wanderers wieder in den Sinn, und ein Schatten legte sich über die Erinnerungen an die strahlende Welt, die sie vor so langer Zeit verlassen hatte.
Konnte sie angesichts der schrecklichen Wendungen, die das Leben der Menschen genommen hatte, wirklich sicher sein, dass jenseits der Weltentore noch alles beständig war? War es nicht möglich, dass der Schatten des Einen sich auch auf die heilige Halle der Götter gelegt hatte?
Was, wenn der Wanderer wirklich in Gefahr schwebte?
Die Magun beschleunigte ihre Schritte. Die Zweifel vertrieben das berauschende Glücksgefühl über die zurückgewonnene Jugend, und die Freude wich einer tiefen Besorgnis. Sie schalt sich eine Närrin, dass sie sich von ihrem Ziel hatte ablenken lassen.
So unerschütterlich, als hätte es die langen Winter der Verbannung niemals gegeben, schritt sie durch die Nebel und erreichte schließlich den Fluss des Lebens.
Ein kleines Boot lag am Ufer des breiten Stroms, reglos und wartend. Es war kein Zufall, dass es dort lag. Selbst wenn sie den Fluss an einer anderen Stelle erreicht hätte, hätte sie es dort wartend vorgefunden. Die Boote waren
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