Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
glaubte, jeden Muskel in ihrem Körper zu spüren, fand sie keine Ruhe. Immer wieder dachte sie an das, was ihr bevorstand, und hegte große Ängste, ob sie den Erwartungen der anderen auch wirklich gerecht werden konnte.
Wenn ich wüsste, wie man den Mondstein anruft, könnte ich dem entscheidenden Ereignis viel gelassener entgegenblicken, überlegte sie.
Inahwen hatte ihr zwar schon etwas über das Wesen und die Eigenschaften des Steins anvertraut, sich aber strikt geweigert, sie schon in den Höhlen in dessen Magie einzuweisen.
Geduld war jedoch etwas, das Ajana nur schwer aufbringen konnte. Schon gar nicht, wenn so viel von ihrem Erfolg abhing.
Und wenn ich es selbst einmal versuche?, überlegte sie. Ich habe die Nebel schließlich auch ohne Inahwens Hilfe gewoben, warum sollte es mir jetzt nicht gelingen? Der Gedanke hatte etwas Verlockendes und setzte sich hartnäckig in ihr fest. Es konnte doch nicht schaden, wenn sie sich schon jetzt mit dem Mondstein befasste und sich auf ihre Aufgabe vorbereitete. Nicht viel, nur ein wenig, damit ihr der Ablauf später in der Wüste nicht gar so fremd war.
Der Gedanke vertrieb alle Müdigkeit. Ajana fühlte sich plötzlich voller Tatendrang. Es war ihr Amulett. Ihr Erbe. Es gab keinen Grund, es nicht zu versuchen.
Leise setzte sie sich auf und gab Artis das vereinbarte Handzeichen, dass sie aufstehen und sich von der Gruppe entfernen würde. Der Onur-Heermeister nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe. Ajana zögerte nicht länger. Sie nahm ihren Leuchtkorb zur Hand, eilte auf den Tunnel zu, durch den sie in die Höhle gelangt waren, und ging den Weg ein Stück weit zurück.
Hinter der ersten Biegung setzte sie sich auf den Boden, hielt den Atem an und lauschte. Das begleitende Geräusch des Aotum schien in demselben Takt wie ihr Herzschlag durch den Tunnel zu hallen. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass man sie vom Lager aus nicht mehr sehen konnte.
Ganz unvermittelt verließ sie der Mut. Der schwache Lichtschein, der vom Lagerplatz in den Tunnel fiel, verhieß die Nähe anderer Menschen und die Sicherheit der Gruppe. Hier aber war sie allein!
Im spärlichen Licht des Leuchtkorbs kauerte sie in der Finsternis des Tunnels und rang erneut mit ihren Ängsten. Die unheimlichen Schattengestalten kamen ihr in den Sinn, und für einen Augenblick war sie wirklich versucht aufzustehen, um zum Lager zurückzukehren. Doch sie bezwang ihre Angst und zog das Amulett unter ihrem Gewand hervor.
Wie damals an den Ufern des Arnad würde auch in der Wüste die Hoffnung eines ganzen Volkes auf ihren Schultern ruhen. Und obgleich sie wie damals auch diesmal das Gefühl hatte, die Bürde nicht tragen zu können, war sie doch fest entschlossen, ihr Bestes zu geben.
Sie würde es versuchen.
Jetzt!
Ich muss mich konzentrieren, mahnte sie sich selbst zur Disziplin und umfasste das Amulett fester. Konzentrieren!
Ajana starrte den Mondstein an. Seit sie in Nymath angekommen war, hatten sich die feinen roten Linien in dem Stein nicht mehr verändert. Die wundersame Erscheinung, die sie damals darin zu sehen geglaubt hatte, hatte sich nicht wiederholt. Die dünnen roten Linien, die den Stein durchzogen, waren ihr inzwischen so vertraut wie die winzigen Leberflecke auf ihrem Handrücken, aber sie fühlte, dass das wohlbekannte Muster nur eine starre Hülle war, die die Geheimnisse des Steins verbarg – so wie auch sie ihre wahren Gefühle den anderen nicht offenbarte.
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da verspürte sie mit einem Mal eine tiefe Verbundenheit zu dem Stein. Wie ihr, so war auch ihm ein großes Unglück widerfahren. Wie sie, so war auch er auf einer großen, unerfüllten Suche, und wie sie, so konnte auch er nicht bestimmen, wohin das Schicksal ihn führte.
Verbunden durch das Schicksal …
Ajana konnte den Blick nicht mehr von dem Mondstein abwenden. Die Welt um sie herum begann in den Schatten zu verschwimmen, während sich ihr Blick ganz in den filigranen Linien des milchig-weißen Steins verlor, der auf wundersame Weise in ihren Händen zu wachsen schien. Wie ein Ballon, der sich aufblähte, quoll er aus der silbernen Fassung hervor, verdeckte die Runen des Amuletts und schwoll unaufhaltsam an, bis er schließlich ihren gesamten Gesichtskreis ausfüllte.
Inahwen, das Lager, die anderen, ja selbst die bedrohlichen Schattenwesen, all das erschien Ajana plötzlich unbedeutend. Es gab nur sie – und den Stein. Sie dachte an ihre eigene Sehnsucht,
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