Das Erbe der Templer
Mitte des Ölbergs hatten wir ungefähr erreicht. Die Zahl der Grabtätten sollte sich auf 100000 belaufen, wie man mir berichtete. Ich hatte es erst nicht glauben wollen, nun glitt mein Blick staunend über die unzähligen weißen Steine und Platten, die den Hang bedeckten, so weit das Auge reichte. Dieser Hang ist schattenlos, kein Baum, kein Busch befindet sich dort.
Mein Begleiter sagte nichts. Er hatte bestimmt mein Staunen erwartet und ließ mich schauen.
Regelrecht fasziniert wurde ich von der Kuppel des Felsendoms. Er ist das Denkmal des Islams, dieser dritten Religion, die die Stadt Jerusalem prägt. Mohammedanern und Juden ist dieser Dom heilig. Der Prophet Mohammed hat von dort aus seine Reise in den Himmel angetreten, Abraham war hier zur Opferung seines Sohnes Isaak bereit, und Kain soll dort seinen Bruder Abel erschlagen haben. Manche frommen Juden gehen sogar noch weiter. Sie und gläubige Mohammedaner behaupten, daß aus dem Staub des Felsens Adam, der erste Mensch, erschaffen worden sei. Dann war also der Felsen, den ich unter der Goldkuppel sah, gewissermaßen der Nabel der Welt.
Ich konnte mich einer Gänsehaut nicht erwehren. Hier war die Stille greifbar. Die Stimmen der wenigen Pilgergruppen aus dem Garten Gethsemane und die Geräusche aus dem Kidrontal, das zwischen Altstadt und Ölberg liegt, drangen nur schwach bis zu uns. Zudem neigte sich ein wunderbarer Tag seinem Ende entgegen. Selbst im Winter blühen in Jerusalem noch die Blumen.
Auch mich hatte die Stadt in ihren Bann gezogen, und ich nahm mir vor, wenn es die Zeit zuließ, noch einen oder zwei Tage zu bleiben, denn viel zu wenig hatte ich bisher zu sehen bekommen.
Jerusalem faszinierte mich.
Ich hörte Nelson Nyes Stimme. Er sagte nur ein Wort. Es kam mir vor, wie vom trockenen Wind herbeigetragen. »Und?«
Ich drehte mich um. Von unten her schaute er mich an, auf seinem Gesicht ein wissendes Lächeln.
»Mir fehlen einfach die Worte.«
»Das habe ich mir gedacht. So wie Ihnen, John, geht es vielen Menschen, die zum erstenmal herkommen.«
»Und sicherlich immer wiederkehren?«
»Das auch.«
Nelson Nye trug einen Rucksack auf der Schulter. Dort hatte er die Lampen, die Seile und das Werkzeug hineingepackt. »Wir sollten gehen«, schlug er vor.
Ich hatte es nicht so eilig. »Moment noch«, bat ich ihn. »Sie haben mir von diesem Friedhof berichtet, von Höhlen, Stollen, Kavernen…«
»Die gibt es auch.«
»Ich sehe nur die weißen Steine.«
»Klar, wir müssen auch zum anderen Teil des Bergs. Die Grabsteine dort sehen anders aus. Vermoderter. Ich habe das Gefühl, als hätte man dort nur bestimmte Menschen begraben.«
»Und welche?«
»Christen vielleicht. Sie gehören schließlich nicht auf den jüdischen Friedhof.«
Ich ließ mir Nelson Nyes Worte durch den Kopf gehen und stimmte dem Mann zu. Die Kreuzritter waren Christen gewesen. Sie hatten gegen die Ungläubigen gekämpft, viele von ihnen hatten ihr Leben im Gelobten Land lassen müssen. So war es durchaus wahrscheinlich logisch, daß sie in anderen Gräbern ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
»Genau wissen Sie es nicht?«
»Nein, John, nur ist der Teil des Friedhofs, wo wir hingehen, unheimlicher.«
»Dann los.«
Die Sonne sank immer weiter. Noch war sie zu einem Drittel zu sehen. Ein knallroter, tiefliegender Ball, umgeben vom hellen Grau der Dämmerung.
»In welche Richtung müssen wir?« fragte ich Nye.
Er deutete nach Osten. »Zum Glück brauchen wir nicht höher zu steigen.«
Das kam mir natürlich entgegen. Die Anstrengung des Fußmarsches spürte ich in meinen Waden. Bei jedem Schritt machte sich die Anspannung bemerkbar.
Die Wege zwischen den weißen Grabplatten waren sehr schmal, wirkten aber gepflegt. Im Sommer und in der Mittagszeit, wenn die Sonne hoch stand, hätte ich den Friedhof freiwillig nicht betreten. Dann war die Hitze fast nicht zu ertragen.
Zwei Männer kamen uns entgegen. Sie gehörten unterschiedlichen Religionen an. Der eine war ein Priester. Seine schwarze Soutane reichte bis zum Boden. Die nackten Füße steckten in Sandalen. Der Wind hatte auf seine Kleidung eine Staubschicht gelegt. Sein Begleiter war ein orthodoxer Jude. Unentwegt redete er auf den Priester ein. Uns grüßten sie freundlich, als sie uns passierten.
»Hier treffen Sie auf Schritt und Tritt fremde Kulturen«, erklärte mir Nelson Nye.
Allmählich erreichten wir freies Gelände. Es war felsiger. Nelson Nye blieb stehen und deutete den Hang hinab in die
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