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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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sie sie nun zum erstenmal sah. Sie wußte, daß sie mit der Erinnerung konfrontiert wurde, die Harskari an ihr früheres Selbst hatte, und doch erschien ihr die Gestalt real. Um sie herum glühte ein Licht, dem fast eine flüssige Qualität zukam und das aus allen Richtungen gleichzeitig strahlte. Sie nahm Farben wahr, stärker ausgeprägte Tönungen als die, die sie mit dem Garten in Verbindung brachte.
    Die Blätter der Büsche und Sträucher - ein dunkles und saftiges Grün. Die Steine und der Boden - taubengrau, rotbraun und lohfarben, die Konturen ebenfalls stark ausgeprägt, so als betrachte sie sie durch ein mentales Vergrößerungsglas, das ihr mehr Einzelheiten zeigte. Aber keine Gerüche. Und nachdem sie einige Zeit in dieser gespenstischen Seinsform verbracht hatte, stellte sie überrascht fest, daß sie überhaupt nicht atmete. Besser gesagt: Der Schatten, den ihr Selbst auf diese Existenzebene projizierte, atmete nicht. Die Verbindung zwischen dem wahrnehmenden Schemen und dem Körper, den sie nun nicht mehr fühlen konnte, entzog sich ihrem Verständnis. Als sie darüber nachdachte, schwindelte ihr schwindelte dem Schatten. Sie empfand dieses Erlebnis als unheimlich.
    Harskari zähmte ihre Ungeduld und wartete, bis sich Aleytys einigermaßen an die neue Seinsphase gewöhnt hatte.
    Die junge Frau drehte den Kopf, und es war der Schemenschädel, der sich bewegte. Sie vermutete jedoch, daß es in ihrem Körper zu einer Entsprechung kam. Sie sah, irgendwie, den Garten, in dem sich der Körper befand, und ihre Verwirrung nahm zu, als sie darüber nachdachte, aus wessen Augen sie eigentlich die Umgebung betrachtete. Ich bin hier … ganz … im Innern des eigenen Kopfes. Sie zwang sich dazu aufzustehen, und sie spürte, wie sie sich bewegte. Fühlte einen leichten Widerstand, eine gewisse Trägheit wie von Knorpeln und Masse. Das körperliche Empfinden genügte, um ihr die Möglichkeit zu geben, Arme und Beine als Werkzeuge einzusetzen. Es hätte ihr großes Unbehagen bereitet, nicht zu wissen, wo sich Hände und Füße befanden. Und es war erschreckend, so wenige Verbindungen zur realen Welt zu haben. Führen Geister ein solches Leben? Wenn ja, so möchte ich lieber auf eine derartige Existenz verzichten. So, und jetzt sollte ich mich ans Werk machen. Eine gedankliche Vorstellung, und sie ging los, gewann dabei den Eindruck, als hüpfe sie auf und nieder, als wandere sie über einen Boden hinweg, der so weich war wie besonders elastischer Gummi.
    Harskari winkte ihr zu, drehte sich um und glitt fort.
    Einige Sekunden lang kam sich Aleytys wie ein Tausendfüßler vor, der nicht genau wußte, welche Beine er zuerst bewegen sollte.
    Dann jedoch folgte sie Harskari, schwebte eher, als daß sie ging.
    Diese Wahrnehmung erinnerte sie an ihre Kindheit, an das kleine Mädchen, das sie im Vadi Raqsidan gewesen war, an den späten Herbst, bevor der große Schnee kam, an die Herstellung von Eisschlitten, daran, wie sich die Kinder auf den Rutschbahnen die Sohlen von den Stiefeln geschabt hatten.
    Das Haus wirkte geradezu entmutigend massiv, und überdeutlich sah Aleytys die Furchen im Stein.
    Harskari - beziehungsweise ihre Traumgestalt - ging durch die Wand, so als sei sie Nebel.
    Aleytys folgte ihr, fühlte sich versucht, nach Luft zu schnappen.
    Sie verspottete sich selbst und erinnerte sich daran, daß sie schon seit einer geraumen Weile nicht mehr atmete. Wie lange nicht? Das ließ sich kaum feststellen. Die Wand fühlte sich ähnlich gummiartig an wie der Boden, und Aleytys verspürte praktisch keinen Widerstand, als sie die Mauer durchdrang. Dennoch war sie froh, als sie ins Lesezimmer gelangte. Die Dinge in diesem Raum wirkten fremdartig, unwirklich, und gleichzeitig zeichneten sie sich durch jene Art von eigentümlich intensiver Realität aus, mit der sich ihre gesamte Umgebung beschreiben ließ. So als handelte es sich bei ihnen um Hologramme, die einerseits den perfekten Eindruck gegenständlicher Dinge erweckten, sich andererseits jedoch als Trugbilder offenbarten. Aleytys glitt durch die Hologramme hindurch, schwebte durch die Traumvisionen des Bodens, der Wände und der Einrichtung.
    Sie folgte Harskari durch die Gänge und Korridore, so wie sie zuvor Hyaroll gefolgt war. Immer tiefer hinab ging es, durch die Keller mit den Gestellen, in denen Hunderte von Weinflaschen ruhten, vorbei auch an den Regalen mit Konserven, vorbei an den zugedeckten Maschinen in der Werkstatt, in einer Art Laboratorium, das zu

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