Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
Vom Netzwerk:
bleibt auch weiterhin stabil. Das ist unsere Religion, wie du vielleicht weißt. Wir verehren das Nichts mit gro
    ßer Hingabe. Wenn dir das völlig bewußt wäre, müßte dir nun klar sein, daß ich mich gerade einer Blasphemie schuldig gemacht habe, die mit dem Herausschneiden der Zunge bestraft werden kann. Unsere Vorstellung von Gott ist das Nichts. Seltsam: Das Nichts ist doch ein Neutrum; man sollte meinen, die Matriarchen wären schlau genug gewesen, eine weibliche Bezeichnung dafür zu finden. Habe ich dir gesagt, was die Ursache für diese Narben war? Dummheit. Nein, ich habe nichts Drastisches oder besonders Mutiges gegen die Obrigkeit unternommen. Ich lehrte meinen Sohn nur das Lesen. Ja, das ist alles. Aber das stellte eine große Sünde dar. Es ist nur wenigen Personen erlaubt, lesen zu lernen, den im ganzen Land weilenden Priestern der T’ninks und den Schriftgelehrten in den Diensten der Matriarchin und der Händlerfamilien. Genau. Wenn man ein Geschäft führt, so braucht man einen T’nink-Schreiber für die Buchhaltung und die Formulierung der Verträge, und die Kaufleute können nur hoffen - oftmals vergeblich -, daß der Gelehrte ehrlich ist, keine Bestechungsgelder von Konkurrenten annimmt und einen auf diese Weise in den Ruin treibt. Nun, die lu Laraynnes sind schon immer aufsässig gewesen.
    Nein, sie traten nicht in aller Öffentlichkeit als Rebellen auf - jener Zweig unserer Familie verschwand rasch aus Loppen Var. Jede von uns, die zu unvorsichtig war, fand den Tod. Unter anderem war es bei uns üblich, daß die Mutter die Tochter das Lesen lehrte - eine Tradition, die bis in längst vergessene Zeiten zurückgeht. Das führte dazu, daß es uns recht gut ging. Dann und wann ließen sich die lu Laraynne betrügen, um den Schein zu wahren. Bald standen wir in dem Ruf, erfolgreich zu sein und Glück zu haben. Nein, ich verrate nichts, indem ich dir das alles sage. Jener Familienzweig existiert nicht mehr. Kusinen, Tanten, Großmütter, Mütter - sie sind alle tot. Unsere Unsterbliche, unsere lebende Göttin Avagrunn, brachte sie um. Sie duldet keine Veränderung der Regeln, die sie uns auferlegte. Seit Urzeiten, an die sich niemand erinnern kann, verläßt sie ihren Dom, wenn es hier zu Unruhen kommt, und sie ruft das Volk zu jener Art von Ordnung, die ihr genehm ist. Sie tötet die Unverbesserlichen und bestraft die anderen. Warum ich noch lebe? Ich weiß es nicht. Vielleicht diene ich als Symbol für die Konsequenzen von Rebellion. Bin in dieser Hinsicht allerdings nicht sehr eindrucksvoll. Ich begebe mich nur selten in die Nähe anderer Leute, suche nur dann das Dorf auf, wenn ich etwas brauche, das ich nicht selbst herstellen kann. Ich spreche mit niemandem, und niemand spricht mit mir. Warum ich zur Rebellin wurde?
    Ach, wenn du ihn gesehen hättest, würdest du verstehen. Meinen Erstgeborenen, einen lieben und prächtigen Jungen, höflich und zuvorkommend, doch mit ausgeprägter Neugier, mit dem Bestreben, mehr in Erfahrung zu bringen. Sein Vater? Du weißt wohl nicht genau, wie es hier bei uns zugeht, oder? Nichts. Er kam aus dem Nichts, als ein Geschenk des großen Nichts. Das bedeutet folgendes: Pubertäre Mädchen begeben sich in den T’nink ihrer Ortschaft, wenn sie bereit sind, Kinder zu empfangen und es die Mutter erlaubt. Dreißig Tage verbringen sie dort, und an jedem Tag beten sie im Tempel und liegen des Nachts mit denjenigen im Bett, die in ihre Zimmer kommen. Die Priester? Habe ich eben denn nicht deutlich genug gemacht, daß die Priester und Schriftgelehrten ausschließlich weiblichen Geschlechts sind? Nein. Alle dreißig Tage müssen sich die Männer eines Dorfes - diejenigen in mittleren Jahren - zu Gruppen zusammenfinden. Tagsüber verrichten sie schwere Arbeiten im T’nink, und in der Nacht suchen sie die Räume auf, die man ihnen zuweist, in jeder Nacht einen anderen, so daß nicht einmal die Priesterinnen wissen, wer welches Kind zeugte. Und nachher? Häufig kommt es zu dauerhaften Beziehungen zwischen den einzelnen Männern und Frauen, obgleich das eigentlich verboten ist. Aber solange aus diesen Verbindungen keine Kinder hervorgehen, wird nichts dagegen unternommen.
    Mein Sohn, mein Juranot. Ich versuchte, ihn auf einem der Familien-Bauernhöfe aufwachsen zu lassen, ihn dort bei mir zu behalten, und ich gab meinen Sitz im Entscheidungsrat auf, um ihm Gesellschaft zu leisten. Das Leben dort gefiel ihm. Juranot liebte Pflanzen und Tiere sehr. In einem kleinen Buch,

Weitere Kostenlose Bücher