Das Erbe der Vryhh
sie mit einer irrationalen Gewißheit erfüllt, und sie sprang auf und lief aus dem Zimmer.
Durch die Flure, tiefer hinab, immer tiefer hinein in den Kellerbereich, durch die weiträumige Werkstatt mit den zugedeckten Maschinen und Gerüsten, in denen Rohmaterialien lagerten, durch das desaktivierte Labyrinth, und noch tiefer in die Gewölbe unter dem Haus, bis sie schließlich an die für sie undurchlässige Membran prallte, die das Herz des Domes schützte. Sie preßte sich dagegen und konnte die Konturen des Kontrollsitzes - niemand saß darin - und einen Teil des Bodens und der Konsole erkennen.
Zum erstenmal spürte sie jetzt, daß Aleytys wirklich irgendwo in der Nähe weilte. Vielleicht gründete sich dieser Eindruck nur auf Einbildung, vielleicht auf das Bedürfnis, sich selbst ein Gefühl zu suggerieren, das sie seit Stunden herbeisehnte. Doch sie wußte nun, daß Aleytys im Herz war. Ein anderer Ort kam nicht in Frage.
Shareem drückte sich noch fester an die Membran. »Kephalos!«
rief sie. »Hast du in dir selbst nach ihr gesucht? Aleytys ist dort.
Ich bin ganz sicher.«
Keine Antwort. In gewisser Weise empfand Shareem das als Trost. Solange ihre Tochter noch lebte, mußte der Kephalos seine eigene Abschirmung aufrechterhalten, durfte er niemandem Zugang ins Domzentrum gewähren und konnte nur zu Aleytys einen direkten Kontakt herstellen. Somit empfand Shareem die andauernde Stille als Erleichterung, und sie wandte sich von der Membran ab und begann den langen Rückweg in den Wohnbereich des Hauses.
Shareem wanderte unruhig im großen Saal auf und ab, als Ikanom mit Aleytys aus dem Keller kam. Sie hörte, wie die Tür aufglitt, drehte sich um und hielt den Atem an, als sie sah, was der Androide in den Armen trug. Sie eilte auf ihn zu, berührte die feuchtkalte Haut ihrer Tochter und seufzte besorgt, als sie das eingefallene Gesicht der jungen Frau sah. »In die Krankenstation«, sagte sie und geleitete Ikanom ins Blasenzimmer.
Dort angekommen, ließ Ikanom die Bewußtlose auf die breite Liege des Autoarztes sinken, trat zurück und verharrte an der Tür, während Shareem ihrer Tochter die fleckige Kleidung auszog, schockiert auf den dürren und ausgemergelten Leib starrte und mit der Zunge schnalzte, als sie die wunden Furchen und Rillen im linken Handgelenk sah. »Man könnte meinen, du hättest ein siebenjähriges Fasten hinter dir«, sagte sie leise. Was auch immer in der vergangenen Nacht geschehen war: Es hatte Aleytys ein Drittel ihres Körpergewichts gekostet. Das Haar fiel ihr in ganzen Büscheln aus, die Wangen waren schorfig, die Lippen spröde.
Hautfladen lösten sich bei der geringsten Berührung von ihrem Körper. Der Pulsschlag war zwar stark, jedoch erschrek-kend langsam. Nach den Anzeigen der Diagnosegeräte zu urteilen, ruhte sie in einem so tiefen und festen Schlaf, daß er fast einem Koma gleichkam. Über die Schulter hinweg sagte Shareem: »Ikanom, einen Schwamm und warmes Wasser.«
Als der Androide das Zimmer verlassen hatte, befaßte sich Shareem eingehender mit den Indikatorwerten. Ein extremer Erschöpfungszustand. Nahrungsaufnahme dringend erforderlich. Keine schwerwiegenden Zellschäden. Was von ihr übriggeblieben war, heilte Aleytys im Schlaf. Der Autoarzt hatte das bereits festgestellt und schien nicht geneigt zu sein, in diesen selbstinduzierten Rekonvaleszenzprozeß einzugreifen. Er hielt wiederholte leichte Mahlzeiten aus dicker Brühe und heißem, gezuckertem, Fruchtsaft für ausreichend. Den Kopf Aleytys’ vorsichtig anheben und den Schluckreflex ausnutzen, um nach und nach ihren Magen zu füllen, nicht versuchen, sie zu wecken. Sie sauberhalten und es ihr möglichst bequem machen. Sonst nichts. Sie würde von ganz allein erwachen, wenn sie sich erhoht hatte. Der Autoarzt gab ein leises Summen von sich, als er seine Patientin untersuchte. Trotz ihrer Besorgnis reagierte Shareem mit einer gewissen Belustigung auf den Besitzerstolz, den die Maschine Aleytys engegenzubrin-gen schien. Typisch für solche Mechanismen. Selbst der im Dom Kells verhielt sich so. Sie schauderte und zuckte zusammen, als hinter ihr die sanfte Stimme Ikanoms erklang. »Das Wasser, Anassa.« Sie nahm die Schale entgegen und begann damit, den Leib ihrer Tochter vom Schmutz und den abgestorbenen Hautfladen zu reinigen.
Die folgenden Tage waren die glücklichsten im langen Leben Shareems. Auf eine sonderbare Weise entstand das Gefühl in ihr, das Baby von damals zurückbekommen zu haben - ein
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