Das Erbe der Vryhh
dessen Existenz sie bisher gar nichts gewußt hatte.
Das Bild vor ihren Augen verschwamm. Sie streckte die Hände aus. »Mutter?«
Shareems Finger schlossen sich um die die ihren, kräftig und warm, und sie zitterten deutlich fühlbar. Dann umarmten sie sich und lachten und weinten.
Aleytys und Shareem hatten es sich in bequemen Sesseln gemütlich gemacht, die sich den Konturen ihrer Körper anpaßten schwarze Sessel in einem schwarzen kleinen Zimmer, das zum Weltall hin offen zu sein schien. In Wirklichkeit bestanden die gewölbten Wände aus einer transparenten Substanz, die das, was sich außerhalb davon befand, scheinbar näher heranholte. Das Meditationszimmer, hatte Shareem erklärt, ein Raum, den sie benutzte, um mit sich selbst ins reine zu kommen. Sie ruhten mit jener Schlaffheit in den Sesseln, die sich an das jähe Nachlassen einer starken Anspannung anschließt. Noch begegneten sie sich nicht ungezwungen und mit aller Offenheit. Noch suchten sie nach einem Verständnis ihrer Ähnlichkeit und Verschiedenheiten.
Wenn es jemanden gegeben hätte, der in diesen Minuten über den beiden Frauen schwebte und nach nichtphysischen Zeichen von Reife Ausschau hielt (jener Art von Reife, die nicht mit Alter gleichzusetzen ist und doch so oft damit verwechselt wird), so wäre er vermutlich zu dem Schluß gelangt, Aleytys sei die Mutter und Shareem die Tochter. Shareems Gefühle fanden deutlichen Ausdruck sowohl in ihren Zügen als auch den Bewegungen des Körpers, doch in Aleytys gab es mehr Tiefe, eine größere emotionale Intensität. Mehr Zuversicht und Selbstachtung. Infolge besonderer Umstände und einem relativen Mangel an Mobilität war sie dazu gezwungen gewesen, mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu leben und gelegentlich einen manchmal recht hohen Preis für unbedachte Handlungen zu zahlen. Shareem hingegen hatte es aufgrund des Reichtums der Vryhh und ihres Vryhh-Schiffes nicht mit solchen Problemen zu tun bekommen -abgesehen von den Ereignissen, die der Geburt Aleytys’ gefolgt waren. Wenn ihr eine bestimmte Situation nicht mehr gefiel, so machte sie sich einfach auf und davon und vergaß den unliebsamen Zwischenfall, so rasch sie konnte. Es mochte als ein Ausmaß ihrer Empfindungen für Aleytys gelten, daß sie in diesem Fall nicht die Flucht ergriffen und ihre Tochter sich selbst überlassen, sondern statt dessen die Entscheidung getroffen hatte, sich darum zu bemühen, daß Aleytys einen Platz auf Vrithian bekam, ihr die Möglichkeit zu geben, sich von einem trostlosen Leben in der freiheitsbeschränkten Kultur des Raqsidan abwenden zu können. Das Resultat dieser Anstrengungen war die Aleytys, wie sie jetzt existierte und die eine gewisse Unruhe in Shareem entstehen ließ. Sie fühlte sich von ihrer Tochter dominiert und wußte nicht so recht, was sie davon halten sollte. Andererseites jedoch war sie stolz auf Aleytys und empfand ihren Erfolg als Selbstbestätigung.
Aleytys war sich über einige der Dinge klar, die nun ihre Mutter bewegten, und sie gab sich der emotionalen Wärme Shareems hin, ihrer Anerkennung, reagierte gleichzeitig mit Verwunderung auf ihre bereitwillige Kapitulation.
»Ich bin froh, daß ich ein Mädchen zur Welt brachte«, sagte Shareem nach langem Schweigen. »Männliche Vryhh sind manchmal recht … schwierig.«
»Mhm.« Aleytys drehte den Kopf und sah sie an. »Wieviel Vrya gibt es?«
Nervös rutschte Shareem auf die Seite, und die Polster des Sessels seufzten leise, als sie sich erneut dem Körper anpaßten. »Nicht viele«, erwiderte Shareem. Die Worte waren ein wenig in die Länge gezogen, so als fiele es ihr schwer, sie zu formulieren.
»Etwa dreihundert.« Sie bewegte sich erneut. »Es gab nie viele von uns. Wir waren ein Experiment, das außer Kontrolle geriet.« Sie versuchte ein Lächeln, gab es auf. »Die ältesten von uns - sie sprechen nur selten darüber. Hmmm. Es gab ungefähr tausend Vrya, als Hyaroll den Weg nach Vrithian fand. Mehr als dreitausend waren wir nie. Und unsere Zahl verringert sich, Aleytys.«
»Lee.«
»Reem. Das ist der Grund, warum ich die Bestätigung für dich durchsetzen konnte. Ich schätze, was ich jetzt zu sagen habe, wird dir nicht sonderlich gefallen. Drei der vier wollten wissen, wo du dich befindest, wollten dich sofort und auf der Stelle nach Vrithian bringen lassen. Es gelang mir, ihnen das auszureden. Hyaroll unterstützte mich dabei. Wir hielten es für angeraten, daß du auf einer besseren und gesünderen Welt als
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