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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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Seite Linfyars. Hinter ihrer Stirn vernahm sie leises und belustigtes Kichern. Sie beachtete es nicht, doch nach einem anstrengenden Kilometer, den sie in aller Anspannung zurückgelegt hatte, begriff sie, wie komisch die Situation war, und sie lächelte, als sie unter den hohen und ausladenden Wipfeln der Bäume hinwegmarschierte und die flek-kigen Schatten beobachtete. Nach all den Jahren, während denen sie nur als Stimme im Kopf einer anderen Person existiert hatte: Was konnte sie schon gegen ein Flüstern in ihrem eigenen Schädel einzuwenden haben?
    Sie wanderten nach Norden, am Rand des Waldes entlang. Ab und zu stolperte Linfyar, wandte den Kopf von rechts nach links und stülpte die Ohren vor und zurück. Zum erstenmal fragte sich Shadith, welche Halluzinationen jemand haben konnte, der ohne Augen zur Welt gekommen war. Visionäre Geräusche? Von welcher Art? Erinnerungen an sein altes Zuhause? Sie wollte eine entsprechende Frage stellen, überlegte es sich dann aber anders. Sie wollte nicht zu einem Teil jener Illusionen werden, wußte nicht, ob er das, was sie sagte, hören konnte oder nicht, ob es seine Visionen veränderte und zu einem Schrecken werden ließ. Nach einer Weile sah Shadith, wie Linfyar den Kopf schüttelte, wie er schließlich am ganzen Leib erbebte. Dann lächelte er und pfiff leise vor sich hin die Melodie eines zotigen Händlerlieds, das sie ihn auf Ibex gelehrt hatte, als Aleytys nicht zugegen gewesen war. Sie lächelte. Aleytys machte sich manchmal zu viele Gedanken. Zu viele Sorgen über bestimmte Dinge. In gewisser Weise war Ibex nicht schlecht für sie gewesen - all jene düsteren kleinen Enklaven, deren Bewohner ganz versessen darauf gewesen waren, alle Leute zu töten, die nicht ihren Vorstellungen entsprachen. Wenn sie nicht die Bereitschaft mitbrachte, eine ganze Vryhh-Lebensspanne dort zu verbringen, war es aussichtslos zu versuchen, an den dortigen Verhältnissen etwas zu verändern. Nicht einmal mit ihrer besonderen Macht vermochte sie die Bewohner der Enklaven zu moralischeren Verhaltensprämissen zu bewegen. Und dennoch war sie mit einem fest ausgeprägten Gewissen aufgewachsen, das ihr des öfteren so viele Hindernisse in den Weg legte. Wie mochte ihr Wesen ohne jene ethische Matrix beschaffen sein? Shadith schaudert. Ich sollte froh sein, daß sie sich Sorgen macht - andernfalls wäre ich nicht hier auf Avosing.
    Am späten Vormittag vernahm Shadith erneut das Flüstern der fremden Präsenz. Das Raunen sprach nicht zu ihr, war einfach nur da und leistete ihr Gesellschaft. Shadith bedachte Linfyar mit einem kurzen Blick, um festzustellen, ob er etwas spürte. Weder sie selbst noch Aleytys kannten die genauen Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeiten. In dieser Hinsicht überraschte er sie immer wieder. Er gab durch nichts zu erkennen, daß er die Anwesenheit von etwas Fremdem fühlte. Er pfiff vor sich hin, sanfter und melodischer nun, unterbrochen von einigen stillen Intervallen. Es war, als entwickle er ein Lied, um seine Halluzinationen zu beschreiben, als spiele er mit ihnen, mit den Visionen, die das Unterbewußtsein in den aufmerksamen Teil seines Geistes projizierte. Shadith lachte. Linfyar drehte den Kopf und ging rückwärts. Er grinste sie an, und seine Ohren waren in ständiger Bewegung. »Ich glaube, dir gefällt diese verrückte Welt«, sagte Shadith.
    »O ja, Schatten.« Er wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, und dann tanzte er neben ihr. »Verrückt-verrückt.« Er erfreute sich an dem Klang des Doppelworts und wiederholte es. »Verrückt-verrückt.« Er begann damit, es leise zu summen, wieder und immer wieder. Shadith machte sich Sorgen und überlegte kurz, wie er ohne die Orientierungsechos den Weg fand, doch sein Nahbereichssinn und die anderen Wahrnehmungsfähigkeiten, über die er verfügen mochte, schienen auch so recht gut zu funktionieren, denn er wich den aus dem Boden ragenden Wurzeln geschickter aus als sie, mied Ansammlungen dichten Buschwerks und niedrig hängende Zweige, während er die ganze Zeit über seinen leisen Gesang fortsetzte, wobei er die Worte veränderte, um verschiedene Klangfolgen auszuprobieren.
    Plötzlich verschwammen die Konturen der Welt um Shadith herum. Sie verzerrten sich, ordneten sich zu neuen Formen an; einzelne Dinge verschmolzen mit anderen. Farben gingen ineinander über. Gewisse Objekte blähten sich auf und wehten als vage Rauchwolken dahin. Schatten wurden finsterer und verdoppelten sich. Shadith blieb

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