Das Erbe der Vryhh
Gebrauch davon macht.« Shadith hielt durch, ebenso wie Linfyar, und beide gingen weiter. Die körperliche Anstrengung schien es ihnen leichterzumachen. Am späten Nachmittag waren die Halluzinationen nicht mehr annähernd so intensiv wie am Morgen, und Shadith hatte nur mehr das Gefühl, die Welt um sie herum durch einen Zerrspiegel zu betrachten. Formen und Farben veränderten sich nach wie vor, und manchmal kam es auch zu dem sonderbaren Verschmelzen der Konturen. Aber selbst dabei wußte sie nun, wo sie sich befand und woraus die Welt bestand, in der sie sich bewegte, ganz gleich, wie ausgeprägt die Visionen waren. Körper und Geist gewöhnten sich an diesen Planeten, eine recht unangenehme und belastende Erfahrung, die sich jedoch ihrem Ende entgegenzuneigen schien. Linfyar experimentierte mit Geräuschen und spielte mit dem, was ihm vor einer Weile noch einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Daraus schloß Shadith, daß auch er die Krise überwunden hatte und wieder Spaß an sich selbst und seiner Umgebung fand. Sie beobachtete ihn, wie er mit langen Schritten dahinwanderte und manchmal leise lachte.
Ich habe Lee gesagt, du seiest ein zäher kleiner Bursche, dachte sie. Und das stimmt auch, o ja, daran kann gar kein Zweifel bestehen.
Als die Sonne nur noch eine Handspanne über dem Horizont stand und sich länger werdende Schatten über die dreiblättrigen Gewächse legten, die vom Wald bis zum Rand der Stadt hin den Boden bedeckten, traten Shadith und Linfyar unter den hohen Wipfeln hervor und verharrten nach einigen Schritten auf dem Kleemoos.
Sie genossen die plötzliche Brise eines kühlen Windes.
Linfyar sprang auf der weichen Pflanzenmasse umher, bückte sich, pflückte eins der Gewächse, strich die Blätter zurück und schnupperte daran. »Es ist so, als wandere man über eine Matratze«, sagte er. »Und das Zeug riecht auch gar nicht schlecht.« Er rieb sich den Saft von den Fingern, ließ übertrieben die Schultern hängen, zauberte sich ein erschöpftes Lächeln auf die Lippen und gab sich ganz so, als sei er völlig erledigt. »Ich bin müde, Schatten. Und ich habe Hunger. Laß uns eine Pause machen.«
»Wir sind fast da, Linfy.«
»Das hast du schon ein paarmal gesagt.« Trotzig ging der Junge in die Hocke. »Bereits seit Stunden behauptest du das.«
»Nun, und jetzt ist es auch wahr. Wir brauchen nur noch etwa einen halben Kilometer zurückzulegen. Ich kann die Stadt sehen, Linfy, und wenn du horchst, müßtest du eigentlich etwas hören können. Außerdem: Möchtest du die Nacht etwa im Wald verbringen? Erinnere dich an das, was wir auf Ibex erlebten.«
Linfyar gab keine Antwort und kauerte weiterhin am Boden, wobei er mit den Händen über das Kleemoos strich. Doch seine Ohren neigten sich vor, in Richtung der Stadt. Einige Sekunden verharrte er noch reglos. Dann stand er auf, und diesmal war sein Ächzen nicht nur gespielt. Er ist wirklich erschöpft, dachte Shadith. Linfyar seufzte. »Und wann ruhen wir uns aus?«
»Sobald wir eine Unterkunft gefunden haben.«
Die Innenstadt, das Zentrum der Regierung von Avosing, der Bereich mit den hohen, abgesicherten Gebäuden und überdachten Passagen, in dem die Pajungg der Kolonialbehörde lebten und arbeiteten, jene Innenstadt wurde von einer hohen Mauer abgeschirmt, die ebenso unnütz wie massiv war und in erster Linie als deutlich sichtbares Symbol für das Mißtrauen all derjenigen diente, die sich hinter ihr versteckten und diesen Planeten eigentlich regieren wollten - eines Argwohns, der eben jener Welt galt. Nur zwei Durchgänge in der Mauer gab es - Luftschleusen, die mit Schilden und Filtern und allen anderen Schutzvorrichtungen versehen waren, die sich die Pajungg hatten einfallen lassen, um die Luft Avosings und die sie erfüllende Unruhe fernzuhalten. Eins der beiden Tore führte zum großen Kathedralencasino, das andere in die eigentliche Innenstadt. Den zweiten Durchlaß benutzten die Avosinger nur selten, denn die Stadt jenseits der Mauer bereitete ihnen Unbehagen. Sie durchschritten ihn nur dann, wenn sie nicht umhin konnten, irgendwelche wichtigen Dinge mit der Behörde zu klären, und ansonsten mieden sie ihn. Beim Rest von Keama Dusta, dem größeren Teil, handelte es sich um eine bunte Mischung aus Wohnhäusern und Geschäften, Baracken und Fabriken, Tavernen und Lagern, Läden und Aufführungsplätzen, ein verwirrendes Konglomerat ohne erkennbare Struktur.
Shadith erreichte den Rand der Stadt und ging an
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