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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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schwankend stehen, verloren in dem Chaos, und streckte die Hände aus, um an etwas Festem Halt zu finden.
    Kleine und warme Finger schlossen sich um die ihren, umklammerten sie mit einer Kraft, die sie ein wenig erstaunte. Sie vernahm einige Worte, verstand jedoch nicht ihre Bedeutung. Die Klänge erschienen ihr ebenso verzerrt wie die Farben und Formen; sie wußte nur, daß es Linfyar war, der die Silben an sie richtete. Sie zitterte vor Erleichterung, konzentrierte sich auf jene Haltepunkte
    - die Hand Linfys, seine Stimme - und ließ sich von ihm führen, bis die Verwirrung ein Ende fand.
    Als die Sonne fast im Zenit stand, machten sie eine Pause, aßen etwas und ruhten sich aus. Bei einem Zweiunddreißig-Stunden-Tag verstrich viel Zeit zwischen dem Morgengrauen und der Abenddämmerung. Während sie eine Mahlzeit zu sich nahmen, sprachen sie über Dinge, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Avosing standen, Dinge, die Wolff betrafen, bei denen es um Pferde und Fohlen ging, die Launen von Hauskatzen, den Gesang der Vögel im Gehölz hinter dem Haus Aleytys’, auch darüber, ob es für Linfyar notwendig war oder nicht, eine Schule zu besuchen.
    Gemeinsam versuchten sie es mit einigen Liedern. Sie lauschten dem Klang ihrer sich vereinenden Stimmen. Manchmal begleitete Shadith das Pfeifen Linfyars mit einer Melodie, und dann wieder ließ Linfy seinen Sopran ertönen, während Shadith den Takt angab, indem sie mit den Fingern auf die Harfenschatulle klopfte. Manchmal glitt der Zuhörer im Wald näher heran. Gelegentlich zog er sich zurück, bis Shadith ihn fast nicht mehr spüren konnte. Doch er verließ sie nie ganz.
    Kurz nachdem sie wieder aufgebrochen waren, taumelte Linfyar und begann dann zu laufen. Shadith nahm ebenfalls die Beine in die Hand und setzte ihm nach, holte ihn ein, bevor ihm irgendein Leid geschehen konnte, umarmte ihn fest und erinnerte sich daran, wie sie angesichts ihrer eigenen Verwirrungsphase Trost gefunden hatte in seinen Berührungen. Desorientiert und erschrocken klammerte er sich an ihr fest, wimmerte und schauderte. Shadith sah sich um, entdeckte einige verkrüppelte Wurzeln, die weit genug aus dem Boden ragten, um als eine Art Sitz zu dienen, nahm darauf Platz, hob sich den Jungen in den Schoß und wiegte ihn wie ein kleines Kind. Sie unterdrückte das Verlangen, ihm ein Lied zu singen; das hätte sein Grauen vermutlich nur noch verstärkt.
    Schließlich vernahm sie ein langgezogenes und rasselndes Seufzen, und Linfyar entspannte sich. Sie riskierte es, ihm eine Frage zu stellen: »Vorbei?«
    »Ja, Schatten.« Er schmiegte sich noch einige Sekunden lang an sie. Dann schob er sich mit nervöser Entschlossenheit von ihr fort und stand breitbeinig auf der Blätterunterlage, wobei seine Körperhaltung einer Herausforderung gleichkam. Er pfiff so laut er konnte, begegnete dem Wald um ihn herum mit einem verächtlichen Zwitschern. »Pah!« machte er. »Blöde Bäume.«
    Shadith lachte und stand wieder auf, das Rucksackgestell ein Gewicht, das mit jeder Stunde zunahm. Und sie hatten noch einen langen Marsch vor sich, bevor sie die blöden Bäume Linfys hinter sich zurücklassen konnten. Sie erwog die Möglichkeit, das Lager an diesem Ort aufzuschlagen und den Weg am nächsten Morgen fortzusetzen, seufzte schließlich und ging weiter. Vielleicht war es besser, in Bewegung zu bleiben. Allein der Himmel mochte wissen, was in der Düsternis des Waldes auf der Lauer lag.
    Später folgten weitere Verwirrungsphasen, von denen jedoch keine so schlimm war wie die erste. Linfyar und Shadith halfen sich gegenseitig und setzten den Weg fort. Ihre Metabolismen waren verschieden, so daß einer von ihnen einen klaren Kopf hatte, wenn der andere eine neuerliche Vision erlebte. Shadith empfand bald so etwas wie einen dumpfen Zorn, und sie überlegte, ob sie eine weitere Dosis des Gegenmittels zu sich nehmen sollte. Aber davor hatte Haupt sie gewarnt. »Wir sind auf nichts weiter als nur Spekulationen angewiesen«, erinnert sich Shadith an ihre Worte.
    »Wir wissen nur, daß das Zeug bisher noch niemanden getötet hat, obwohl die Arznei von verschiedenen Spezies benutzt wurde. Du und der Junge - ihr beide seid in gewisser Weise Mutanten, und daher könnte der Trank Nebenwirkungen auf euch haben, die sich möglicherweise als bedrohlich herausstellen. Wir gehen nur deshalb das Risiko ein, euch das Medikament zur Verfügung zu stellen, weil euch vermutlich noch Schlimmeres erwarten würde, wenn ihr keinen

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