Das Erbe der Vryhh
improvisiert wirkenden Schuppen vorbei, die Schandflecke hätten sein können, es aber nicht waren, an Konstruktionen, die man aus Latten und Brettern zusammengezimmert hatte, ohne sie zu tünchen.
Andere und ebenfalls nicht gestrichene Verschlage waren benutzt worden, um natürlich wirkende Formen zu schaffen, die im Lauf der Jahre und infolge von Wind und Regen jedoch graue und dunkelbraune Farbtöne gewonnen hatten. Blühende Ranken wanden sich um die Balken herum, und hier und dort mochte es schwerfallen, zwischen dem Drinnen und Draußen zu unterscheiden.
Das nach wie vor recht helle und nun schräg einfallende Licht der untergehenden Sonne betonte die Maserungsmuster im Holz und fügte den eher trüben und blassen Farben an einigen Stellen buntere Flecken hinzu. Ich glaube, mir werden die Leute hier gefallen; sie scheinen einen ausgeprägten Sinn für Schönheit zu haben. Sie rümpfte die Nase, als die Präsenz in ihrem Kopf lachte. Kichernder Narr, schalt sie ihn in Gedanken. Es existierten keine Straßen, keine geraden Verbindungslinien. Es gab nur die freien Flächen zwischen den einzelnen Gebäuden, einige davon lang und schmal, andere oval, von ihrer Form her wie eine Rankenknospe. Und überall bedeckte das weiche Kleemoos den Boden. Freie Rächen, auf denen die Unruhe des Lebens herrschte: Kinder turnten überall umher; Verkäufer boten Speisen an, die an Fleischspießen dampften oder auf Kohlenrosten brieten; Tavernen mit vielen Tischen auf dem Moos, mit Männern und Frauen, die bei Bier und Wein zusammensaßen und miteinander plauderten, nicht weit entfernt andere Personen, die lachten und sich mit leerer Luft unterhielten.
Shadith sah eine schlanke Frau, die inmitten des Gedränges saß. In ihrem Haar zeigten sich graue Strähnen; die Hände ruhten auf den Knien, und ein vages Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr Bewußtsein mochte sich in einer Erinnerung verloren haben, und ihre Aufmerksamkeit galt einer Vision, die sich nur ihr darbot, irgend etwas, das sich vor ihr bewegte. Ihrem Gesichtausdruck war zu entnehmen, daß sie das liebte, was sie beobachtete. Die Kinder - sie riefen, rauften, stellten einander nach, stürmten um die Frau herum, kamen ihr jedoch nicht zu nahe. Als ein Junge stehenblieb und in die Leere blickte, respektierten seine Gefährten einen ähnlichen Freiraum um ihn herum und setzten das Spiel fort. Nach einer Weile erwachte der Junge wieder aus seiner Starre und schloß sich erneut seinen Kameraden an.
All das empfand Shadith als recht interessant, doch sie war müde, und Linfyar wankte schweigend neben ihr dahin. Sie gingen weiter, bis sie einige der größeren Flächen zwischen den Häusern erreichten, und dort ließen sie sich auf dem Kleemoos nieder. Sie streifte sich das Tragegestell vom Rücken und legte es neben Linfyar zu Boden, damit er darauf achtgeben konnte, und anschließend holte sie die Harfe aus der Schatulle hervor und stimmte sie.
Sie wußte nicht, welches Verhalten die lokalen Bräuche Stra
ßenmusikanten vorschrieben - es gibt hier nicht einmal Straßen
oder welche bürokratischen Regeln sie möglicherweise verletzte.
Sie erinnerte sich allerdings an den Hinweis Haupts, wonach die Beamten der Kolonialbehörde ihre Nase nur selten in etwas steckten, das sich außerhalb der Mauer zutrug. Sie würde es also in erster Linie mit der Regierung im Hintergrund zu tun bekommen. Sich hier niederzulassen und zu spielen - das mußte eine rasche Reaktion bewirken. Straßenleute, auch wenn sie keine Straßen hatten, verteidigten für gewöhnlich ihre Privilegien. Shadith bemerkte die interessierten Blicke einiger Avosinger, als sie mit dem Stimmen fertig war und versuchsweise an den Saiten zupfte, auf der Suche nach einer Melodie, die dieser Stadt und ihren Bewohnern angemessen war. Weitere Avosinger kamen herbei, machten es sich auf dem Kleemoos bequem und warteten darauf, daß sie begann.
Vielleicht war die lange Traumvision der vergangenen Nacht dafür verantwortlich: Shadith bekam das Gefühl, daß die Melodie, die sie zum Tanz ihrer Schwester gesungen hatte, besonders geeignet war. Sie stimmte das Lied an und benutzte die Harfe, damit auch das Interesse der weiter entfernten Leute geweckt wurde.
Außerdem erzeugte sie damit die Töne, die ihr Kehlkopf nicht zu produzieren vermochte. Fast im gleichen Augenblick manifestierten sich ihre Schwestern und tanzten, zarte Phantome, die durch die Schatten der Abenddämmerung und die sich versammelnde Menge
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