Das Erbe der Vryhh
glitten.
Neben ihr straffte Linfyar seine schmalen Schultern und begann damit, die wortlose Melodie Shadiths mit seinem kunstvollen Pfeifen zu untermalen, fügte einige Variationen des Themas hinzu, so als könne auch er das wahrnehmen, was der Reminiszenzphantasie des Mädchens an seiner Seite entsprang.
Die Avosinger hörten fasziniert zu, mit großen und träumenden Augen.
Und Shadith brachte etwas zustande, das sie bisher für unmöglich gehalten hatte: Sie sang einen Traum für andere. Sie war das Verbindungsglied, das lernte und vermittelte, aber nie selbst mitteilte - von ihrer Mutter einmal abgesehen, die sie ausgebildet hatte und selbst Mittlerin gewesen war. Vor dem Kanzedor-Überfall, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war und der ihr, Shadith, die Schwestern und Tanten genommen hatte, vor einem jener vielen Angriffe, die dazu dienten, Sklaven zu fangen, die Shayalin der Weberinnen beraubten und eine viele Jahrtausende lange Kultur zerstörten … bevor man Shadith alles Wissen nahm, sie wie einen Haufen Plunder an den ersten Bieter verkaufte, bevor ihre Familie für immer ausgelöscht, bevor ihre Heimat für immer unerreichbar wurde (Als es ihr gelungen war, die Freiheit wiederzuerlangen, existierte Shayalin nicht mehr, ebensowenig wie ihre Familie) …
bevor das geschah, hatte ihre Pflicht darin bestanden, sich all das ins Gedächtnis einzuprägen, was nicht aufgezeichnet oder niedergeschrieben werden konnte, was von ihrem Großvater an die Mutter und von ihrer Mutter an sie selbst weitergegeben worden war.
Und als sie nun sang und auf der Harfe spielte, dachte sie daran, daß die Weberinnen von Shayalin vielleicht wiedergeboren werden konnten - nicht als das, was sie einst gewesen waren, nicht als Shallal, aber möglicherweise ließ sich … etwas machen. Es mochte Leute geben, die sie unterrichten, denen sie zumindest einen Teil jener längst vergessenen Zivilisation geben konnte, auf daß sie weiterlebte. Hoffnung vibrierte in der Stimme Shadiths, Hoffnung und auch Freude …
Als sie das Lied beendete, lehnte sie die Harfe an den Oberschenkel und gab sich ganz dem angenehmen Empfinden hin. Sie lächelte müde, als Linfyar aufsprang, sich durch die Menge der Zuhörer schob und dabei die Sammelschüssel schwenkte. Er pfiff eine fröhliche und einschmeichelnde Melodie, verstärkte die Bewunderung der Männer und Frauen mit seinem Charme, um den Avosingern auf diese Weise eine großzügige Münzengabe zu entlocken.
Einer der Zuhörer stand auf, schüttelte den Kopf und schlurfte auf Shadith zu, die Hände in die Taschen der kurzen Hose geschoben. Ein Junge, der kaum älter sein konnte als Linfyar. »Das hier ist Sojohls Platz.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich hier niederlasse, solange er nicht zugegen ist?«
Der Junge strich mit einem nackten Fuß über das Kleemoos und ließ seine dichten rötlichen Augenbrauen auf und nieder tanzen.
Seine Lippen zuckten, und er starrte über Shadith hinweg, als sei die Antwort auf diese Frage irgendwo hinter ihr verborgen. Dann kratzte er sich an der Nase und grinste plötzlich - ein Lächeln, das ebenso strahlend war wie das Linfyars. »Nein«, erwiderte er.
»Aber du mußt weg, wenn Sojohl kommt.«
»Wann?«
»Nach der nächsten K’shun.«
K’shun, dachte Shadith. Leere. Na gut. Dieser Platz gehört Sojohl, wer auch immer das sein mag, und ich ziehe weiter, wenn er hier auftaucht. »Danke«, sagte sie laut. »Ich bin neu hier.«
»Ja, das habe ich mir schon gedacht.«
Shadith sah sich um. Linfyar war fast fertig, und die meisten Avosinger hatten sich inzwischen umgedreht und gingen fort. Sie wandte sich wieder an den Jungen. »Kennst du eine billige Unterkunft für mich? Mein Freund und ich - wir brauchen ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Wir haben einen langen Tag hinter uns und sind recht müde.«
Der Junge musterte sie und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Linfyar. Shadith wiederholte ihre Frage nicht. Sie hielt es für unangemessen, Hast zu zeigen - obgleich das Licht der untergehenden Sonne bereits die Wolken zu verfärben begann und der in der Luft dahintreibende Pollendunst glitzerte und kleine Regenbögen entstehen ließ, die sich im verblassenden Licht veränderten.
»Meine Mutter«, sagte der Junge schließlich, was Shadith dazu veranlaßte, sich wieder auf ihn zu konzentrieren. »Sie hat noch ein freies Zimmer. Wenn ihr wollt, führe ich euch zu ihr.«
»Ja, warum nicht?« Shadith preßte die Lippen zusammen,
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