Das Erbe der Vryhh
um ein Gähnen zu unterdrücken, und schob die Harfe in die Schatulle zurück. Mit einem erschöpft klingenden Seufzen und dem Gefühl, das Gewicht des Rucksackgestells nicht mehr tragen zu können, streifte sie sich die Halteriemen über die Schulter und lächelte dankbar, als der Junge ihr beim Aufstehen half. »Hast du etwas dagegen, wenn wir warten, bis Linfy fertig ist? Deine Mutter mag zwar sehr nett und freundlich sein, aber bestimmt möchte sie bezahlt werden.«
»Und ob.« Der Junge wandte sich um und beobachtete Linfyar.
Sein Gesicht erinnerte an das eines Wiesels, schien spitz zuzulaufen und kein Kinn aufzuweisen, nur aus Mund und Nase zu bestehen. Das kurzgeschnittene rote Haar wirkte wie ein sauberer Pelz, obgleich er so verschmutzt war, wie man es von einem Knaben seines Alters nach einem langen und aktiven Tag erwarten konnten.
Und tatsächlich glaubte Shadith zu erkennen, daß es wirklich nur der Dreck eines einzelnen Tages war, keine Patina gewohnheitsmä
ßiger Vernachlässigung. Solche Dinge hatte sie bei ihren Reisen oft genug gesehen. Er streckte den Arm aus, berührte die Schatulle mit der Harfe und zog die Hand wieder zurück, obwohl Shadith kein Wort gesagt hatte. »Du singst gut.«
»Danke.«
»Ist so etwas schwer zu lernen?«
»Kommt darauf an.« Shadith öffnete den Beutel am Gürtel und sah Linfyar entgegen, der nun zu ihr zurückkehrte. »Ich bin Shadith«, sagte sie. »Freunde nennen mich Schatten. Das kannst du ebenfalls, wenn du möchtest.«
»Ich bin Tjepa. Und meine Mutter heißt Perolat.«
»Nun, Tjepa, es freut mich, dich kennenzulernen.«
Er lächelte erneut und deutete eine Verbeugung an, erfreut über die neue Bekannte und zufrieden mit sich selbst.
»Wieso bist du er einzige, der zu mir gekommen ist, um mit mir zu sprechen, Tjepa-si? Linfyars Schlüssel ist fast voll; also gefiel den Leuten unser Gesang.«
»Du weißt wirklich nicht viel.«
»Tjepa, mein Freund, ich bin noch nicht allzu lange hier.«
Mit dem Daumen deutete der Junge gen Himmel. »Ist es da oben tatsächlich so anders?«
»Es gibt dort viele Arten der Andersartigkeit.«
Er musterte sie skeptisch. »Ich wette, du hast überhaupt keine Ahnung. Ich wette, du bist von zu Hause fortgelaufen und hierhergekommen, ohne über irgend etwas Bescheid zu wissen.«
»Hm. Dazu wärst du vielleicht bereit, kleiner Tjepa, aber möglicherweise würdest du die Wette verlieren. Verschiedene Arten, verschiedene Zeiten. Ich bin viel älter, als du glaubst. Warum also hat mich sonst niemand darauf hingewiesen, daß dies der Platz Sojohls ist?«
»Man überließ es mir.«
Shadith hob die Augenbrauen, sprach jedoch kein Wort, als sie den Gürtelbeutel aufhielt und Linfyar die Münzen hineinfallen ließ. Nachdem sie ihn wieder zugeknüpft hatte, sagte sie: »Tjepa, das ist Linfyar, mein Freund. Linfy, das ist Tjepa. Er meint, seine Mutter könne uns vielleicht ein Zimmer vermieten.«
Tjepa sah Linfyar fasziniert an. »Du hast keine Augen«, sagte er. »Wie findest du dich zurecht?«
»Mit den Ohren«, entgegnete Linfyar und wackelte damit.
Anschließend schürzte er die Lippen und stieß eine rasche Folge unhörbarer Ultraschallpfiffe aus, die von Tjepa reflektierten. Shadith beobachtete ihn amüsiert dabei. Er spielt sich nicht auf, hält sich vielmehr zurück, dachte sie. Ich frage mich, welche anderen Wahrnehmungssinne er noch einsetzt, über die er sich ausschweigt. »Du bist etwa um so viel größer als ich …« Linfyar hielt Daumen und Zeigefinger etwa einen Zoll weit auseinander -, » . .
.und du trägst eine kurze Hose und ein Hemd aus einem glatten Stoff, den ich nicht kenne. Deine Füße sind nackt, und zwischen den vorderen Zähnen existiert eine Lücke, die deutlich zu erkennen ist, wenn du sprichst.«
»He, das ist ja toll, Linfy. Wie machst du das?«
Shadith klopfte ihm auf die Schulter. »Lassen wir es zunächst einmal dabei bewenden, Tjepa-si. Gehen wir. Es wird dunkel, und wir haben ziemlichen Appetit.«
Der Junge nickte und schritt in Richtung einer kleineren Seitenfläche. Es handelte sich dabei um so etwas wie eine kurvenreiche Gasse, die sich schlangenartig tiefer in die Stadt hineinwand.
Linfyar hielt sich dicht neben ihm und vergaß seine Erschöpfung, als er dem neuen Bekannten einige seiner Tricks vorführen konnte. Er gab weitere unhörbare Pfiffe von sich, empfing ihre Echos von Hauswänden und Passanten und beschrieb, was er auf diese Weise in Erfahrung brachte. Shadith folgte den
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