Das Erbe der Vryhh
damit verschmolz, wodurch eine komplexe und polyphone Melodie entstand.
Shadith hörte eine Weile zu und begann anschließend damit, einen wortlosen Gesang zu improvisieren, ähnlich den alten Liedern ihrer Heimat und doch anders. Sie tastete sich in das akustische Gewebe der ihr fremden Musik, Ein kühler Windhauch strich durchs Zimmer und schien den Geist Shadiths davonzutragen. Von einem Augenblick zum anderen fühlte sie sich als ein Teil der Melodie, die sich dehnte, schneller pochte, die sich wie ein lebendiges Geschöpf entwik-kelte. Es kam zu Variationen des Grundthemas, wobei die Gur-denspielerin die Führung übernahm - wenn es überhaupt so etwas wie eine Führung gab - und als erste neue Akkorde erklingen ließ. Shadith gab sich damit zufrieden, ihrer Anleitung zu folgen, sang die meiste Zeit über mittelhohe Klangfolgen und fügte höhere und tiefere Töne hinzu, als sie sicherer geworden war.
Schließlich begann auch Perolat zu singen, in einem rauhen und ungeübten Alt, der alles Leid und Verlangen in der Welt zum Ausdruck zu bringen schien, gleichzeitig aber auch vor Glück zitterte
- ein flüchtiges Glück, das einen nur ganz kurz freudig stimmte und dann Melancholie wich, eine Art von frohem Lachen, in dem sich jedoch auch ein Hauch von Leid hören ließ - wie ein schwarzer Tropfen, der Weißes in Grau verwandelte.
Shadith machte sich inzwischen keine Gedanken mehr darüber, ob sie den Test bestand oder nicht. Sie vergaß die ganze Sache, Alter, Kultur und Spezies spielten keine Rolle mehr - die Personen, mit denen sie jetzt sang, waren wie sie.
Derek blies immer höhere Laute auf seiner Flöte, und die Melodie verklang mit einem melodischen Schrillen.
Shadith und die Sucher lachten, setzten sich auf und wischten sich die Freudentränen aus den Augen, während Perolat ein weiteres Mal mit dem Krug die Runde machte und heißen Belas ausschenkte. Darüber hinaus bot sie ihren Gästen Würstchen, mit Käse gefüllte Teigrollen und kandierte Früchte an, die für Shadiths Geschmack ein wenig zu süß waren. Das Schrillen der Röte weckte Linfyar, und er richtete sich brummend auf und rieb sich die Augen. »Was …« Er schnupperte, und seine Ohren stülpten sich vor.
Shadith lachte leise und reichte ihm den Teller mit den Würstchen. »Hier. Ich schätze, die werden dir schmecken.«
Awas beugte sich vor, die Gurde locker in den Armen. »Ich war heute nachmittag auf dem Platz und habe dich gesehen und gehört.«
»Mhmmm?«
»Du und Linfyar - es ist euch gelungen, unseren Visionen Form zu geben, so daß sich uns allen das gleiche Bild darbot. Wußtest du das?«
Shadith straffte den Rücken, strich sich mit der einen Hand über den Nacken und wünschte sich, sie wäre wachsamer gewesen. »Ihr hattet alle die gleiche Halluzination?«
»Nein …« Das Wort war ein in die Länge gezogenes Wispern.
»Das beschreibt nicht genau das, was ich meinte. Alle Leute, mit denen ich anschließend sprach, sahen etwas, bei dem es sich um die Interpretation einer bestimmten Melodienfolge handelte. Lag das in deiner Absicht?«
»Ich ahnte gar nichts davon.« Unruhig bewegte Shadith die Schultern, preßte sich den Handrücken auf den Mund, ließ den Arm sinken. Die Lüge fiel ihr weitaus schwerer, als sie gedacht hatte. Sie mochte diese Avosinger zu sehr. Andererseits jedoch blieb ihr in dieser Hinsicht kaum eine Wahl, und außerdem richtete sich ihr Vorhaben nicht gegen sie. Die Informationen Haupts schienen den Tatsachen zu entsprechen: Aus den Reaktionen, die sie im Verlauf des Abendessens beobachtet hatte, ließ sich der Schluß ziehen, daß den Suchern nicht viel an dem Ajin und seinen Aktionen gelegen war. »Vielleicht nichts weiter als ein Zufall. Vielleicht könnte ich diesen Effekt nicht wiederholen.« Shadith musterte die aufmerksamen Mienen. »Mit welchem Traum soll ich es versuchen?«
Perolat lächelte. »Mit etwas Einfachem, etwas, das du ebensogut kennst wie wir.« Ein leises Lachen. »Eine Wanderung durch den Wald?«
»Ah. Euer Wald scheint sehr redselig zu sein.«
Daraufhin lachten die Sucher heiter.
»Mhmm, mit der Harfe wäre es besser, aber … Awas, würdest du mir dein Instrument leihen?« Shadith deutete auf die große Gurde.
»Warum nicht?« Awas hob die Gurde. »Sei vorsichtig. Sie ist schwerer, als sie aussieht.« Sie warf sie Shadith zu, die überrascht seufzte, als sie sie auffing. Schweigend und interessiert sah Awas zu, wie Shadith an den Saiten zupfte und mit der anderen Hand
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