Das Erbe der Vryhh
ein sehnsüchtiger Wunsch? Gab es eine konkrete Grundlage für ihn? Und wollte sie ihn überhaupt verwirklichen?
Während Shadith schwieg und beobachtete, fand Awas langsam in die Realität zurück. Sie sah sich um, in ihrem Gesicht für einige wenige Sekunden ein Ausdruck benommener Verwirrung.
Dann richtete sie ihren Blick auf Shadith, wobei in ihren Augen sowohl Wachsamkeit als auch ein wenig Sorge schimmerten.
Unmittelbar darauf lächelte sie, und die dunklen Pupillen schienen in einem Nest aus Falten zu verschwinden, was die Konturen von Nase und Jochbeinen betonte. »Wenn ich das nächstemal die Gurde spiele, werde ich bescheidener und demütiger sein«, sagte sie, zum einen Teil als Scherz, zum anderen ernst gemeint.
Shadith errötete. »Eine törichte Vorstellung, und das weißt du auch. Das Erlebnis, das du gerade hinter dir hast, gründet sich zum einen Teil auf akustische Suggestion und zum anderen auf einige Tricks meinerseits.«
Perolat öffnete langsam die Augen, blickte sich um, musterte Derek und Ticha mit hochgezogenen Brauen und wandte sich an Awas. »Ich fasse es einfach nicht.«
»Das Po’ Annutj.«
»Du auch? Und sie ebenfalls?« Perolat deutete auf die beiden nach wie vor Träumenden.
»Ich nehme es an.«
Daraufhin richtete Perolat ihre Aufmerksamkeit auf Shadith.
»Und du hast keine Ahnung davon, was du gemacht hast - in diesem Punkt bin ich ziemlich sicher.«
»Was ich gemacht habe?«
»Du zeigtest uns das Po’ Annutj.«
»Ich weiß, was dieser Ausdruck bedeutet: Waldherz. Aber …«
»Redseliger Wald.« Perolat lachte.
»Mhm-hmmm.«
Ticha und Derek zwinkerten, wobei sich ihre Lider in verschiedenen Rhythmen bewegten. Die gespenstische visionäre Synchronisation bestand nicht mehr.
Perolat wirkte erleichtert. »Wo hast du jene Art von Musik gelernt?«
»Bei einem Teil davon handelt es sich um das Vermächtnis meiner Mutter, beim anderen um Improvisationen und Erfahrungen, die ich während meiner Reisen machte.«
»Shayaln. So nanntest du deine Heimatwelt, nicht wahr? Ich habe dieses Wort zuvor noch nie gehört.«
»Jene Welt existiert nicht mehr. Ich bin in zweifacher Hinsicht eine Waise. Verlor meine Familie und auch die Heimat.« Shadith gähnte und brachte dabei kaum die Kraft auf, sich die Hand vor den Mund zu halten. »Das habe ich dir doch schon gesagt, oder?«
»Du bist müde«, stellte Perolat fest.
Shadith bedachte sie mit einem flüchtigen und erschöpften Lächeln. »Das ist eine Untertreibung.«
»Zieh dich in dein Quartier zurück und schlafe. Morgen gehen deine Mahlzeiten auf meine Rechnung. Danke für die Vorstellung von heute abend.«
Shadith unterdrückte ein neuerliches Gähnen, und ihre Augen tränten. »Ich würde mich freuen, wenn du mir sagen könntest, wo ich spielen und singen darf, um mir Geld zu verdienen.« Rein gedanklich waren diese Worte genau artikuliert, doch sie klangen fast lallend, als sie sie laut aussprach.
Perolat sah kurz die anderen an, die ihre stumme Frage mit einem Nicken beantworteten. »Auf jedem K’shun-Platz, der nicht beansprucht wird.« Sie zögerte. »Aber du wirst nicht lange im K’saha sein. Wenn der Doawai von dir hört, ruft er dich bestimmt in die Kathedrale, in den innerhalb des Mauerrings gelegenen Bereich.«
»Kathedrale?« Shadith schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dort bekämst du viele Münzen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich kenne solche Orte - dort werden einem viele Beschränkungen auferlegt. Zumindest habe ich andernorts solche Erfahrungen gemacht, und ich vermute, hier ist es ähnlich. Ich hätte bereits viele solche Anstellungen haben können. Nein.«
»Möglicherweise läßt man dir keine Wahl.«
»Soll das eine Warnung sein?«
»Ein Hinweis, weiter nichts. Sei vorsichtig, Shadith. Die Stadt.
. .« - Perolat nickte in Richtung Norden, wo sich die Mauer erhob
-,»… und der Doawai - zuerst wird er dich zu sich einladen. Wenn du ablehnst, setzt er dich unter Druck und macht dir das Leben schwer. Und wenn du dich weiterhin weigerst, läßt er dich von seinen Engiaja holen.«
Shadith gähnte zum drittenmal und stemmte sich mühsam in die Höhe. »Dann gehe ich eben fort.« Sie stieß Linfyar mit der Zehenspitze an. »Wach auf, Linfy; es wird Zeit, daß wir ins Bett gehen.«
Und an die Adresse Perolats gerichtet: »Das wäre wirklich schade.
Es gefällt mir hier, und ich würde gern eine Weile bleiben.« Sie klopfte Linfyar auf die Schulter, als er benommen aufstand und taumelte.
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