Das Erbe der Vryhh
an die untere Seite des Instruments klopfte, woraus ein dumpfer Takt entstand. Auf diese Weise machte sie sich nach und nach mit der Gurde vertraut, bis sie ein Gefühl dafür entwickelte und eine komplexe Melodie spielte, wobei sie Gebrauch vom gesamten Lauterzeugungspotential des eigentümlichen Instruments machte - ein Unterfangen, das sich als nicht ganz so schwierig erwies, wie man vielleicht annehmen mochte, denn immerhin hatte Shadith in ihrem ersten Leben auf vielen unterschiedlichen Welten entsprechende Erfahrungen sammeln können. Sie ließ die erste Melodie verklingen und sah erwartungsvoll in die Gesicher der Avosinger, schloß dann die Augen, besann sich auf ihr Gedächtnis und suchte darin nach einem Shayalin-Lied. Schließlich fand sie eins, dessen Klänge das zum Ausdruck zu bringen schienen, was sie während der nicht bewußtseinsgetrübten Perioden bei der Wanderung durch den Wald empfunden hatte. Mit der einen Hand fuhr sie sich über die Stirn. »Na gut der Weg durch den Wald.« Sie blickte auf Linfyar hinab. »Stimm mit ein, wenn dir danach ist.« Sie begann mit einem leisen Klimpern, klopfte mit den Fingernägeln auf das lackierte Holz der Gurde, summte fast unhörbar, konzentrierte sich auf die Stille im Zimmer, auf die von draußen durchs offene Fenster hereinwehenden Geräusche der Nacht, beobachtete das Flackern des niederbrennenden Feuers. Und bald wurde aus dem Summen eine erste sich deutlich herausformende Melodie. Die Stimme Shadiths vereinte sich zu einer Harmonie mit dem Rhythmus, den ihre Finger den Saiten und dem Holz der Gurde entlockten. Sie starrte in die Flammen, nahm sie aber gar nicht mehr wahr. Statt dessen sah sie ihre Schwestern, die im Kreis unter den gewaltigen Bäumen Avosings dahin-schwebten. Riesige Stämme, die vor ihr in die Höhe ragten, in einer endlosen Folge, ein Wald, der sich in alle Richtungen erstreckte. Wand und Fenster existierten jetzt nur noch in einer anderen Welt, und Shadith selbst … gefangen in einem flüchtigen Gleichgewicht zwischen Reglosigkeit und Bewegung, ein Teil der Realität und ein Teil des Traumes, gedehnt sowohl in das Vergangene als auch das Zukünftige, ein Wanderer am Himmel, und gleichzeitig etwas, das durch den Boden kroch, eins mit dem Sein an sich. Ihre Schwestern tanzten im Schatten, sangen vielstimmige Lieder, sangen ruhig und mächtig, beschrieben mit ihren Melodien das Herz des Waldes, das Herz auch des Waldvolks, verkündeten, wie beides zwei verschiedene Aspekte einer einzigen Sache waren. Heiter und fröhlich waren sie, aber auch ruhig und innig. Und sie besangen die Sucher, den Duft des Bernsteins, das Schimmern und Glitzern in seinem Innern. Weiter tanzten die Schwestern Shadiths, in Licht und Schatten, und das Leben durchpulste sie, durchströmte sie wie ein besonderer Saft.
Die Energie des Liedes entfaltete sich immer mehr. Linfyar vereinte sein kunstvolles Pfeifen mit der Stimme seiner Gefährtin, spann das Gewebe der Musik weiter - bis Shadith schließlich verstummte.
Linfyar wurde im gleichen Augenblick still, und eine benommen machende Stille breitete sich im Zimmer aus.
Shadith zwinkerte und hielte die Gurde mit zitternden Händen.
Ihr Gaumen war trocken, die Kehle ein wenig wund, der Körper ausgelaugt.
Perolat war noch immer im Traum verloren, starrte in die Leere, während Tränen ungehindert über ihre kantigen Wangen strömten.
Der Schemen eines Lächelns haftete auf ihren Lippen.
Ticha und Derek schwankten hin und her, die Gesichter unbewegt, die Blicke nach innen gekehrt, die Seelen Teil eines Traumes, der sich ihnen beiden zu offenbaren schien. Ihre Hand ruhte in der seinen, das Lächeln Tichas wie ein Spiegelbild dessen, das die Lippen Dereks umspielte. Shadith beobachtete sie erstaunt und fasziniert. Zwei verschiedene Bewußtseine, verbunden in einem gemeinsamen Traum - soweit sie sich erinnerte, war das nicht einmal geschehen, als die Schwestern ihrer Mutter, Meisterweberinnen, die Fasern der Träume gesponnen hatten. Ähnlichkeiten, ja, Variationen einer Vision - aber niemals genau die gleiche. Nun, Shadith selbst war keine echte Weberin, und ihre Familie hatte nie ein Welt wie Avosing kennengelernt. Sie zwinkerte erneut, verblüfft von dem Gedanken, der ihr plötzlich in den Sinn kam: Keine ihrer Schwestern war jemals im Körper eines Geistreiters zu Hause gewesen. Konnte sie auch ohne die bewußtseinver
ändernden Pollen Avosings solche Effekte bewirken? War ihr Traum auf dem Platz mehr als nur
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