Das Erbe des Alchimisten
mein erstes Kind bekommen habe. Lalita – diejenige, die spielt. Die Geburt damals war schmerzfrei und ohne Qual. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, meinem zweiten Kind denselben Namen zu geben. Aber nachdem mich die nächste Schmerzwelle überfällt und mir das Gefühl gibt, förmlich entzweigerissen zu werden, denke ich nicht mehr, daß ein so sanfter Name passend für das Kind wäre. Ich setze mich auf und ringe nach Luft.
»O Gott«, flüstere ich.
Ray bewegt sich neben mir. Seine Stimme klingt ruhig, als er mich fragt: »Ist es Zeit?«
»Ja.«
»Möchtest du, daß ich dich ins Krankenhaus bringe?«
Wir haben schon über diesen Punkt gesprochen, aber sind bisher zu keiner Entscheidung gekommen. Ich kann große körperliche Schmerzen ertragen, und natürlich habe ich schon bei vielen Geburten geholfen und kenne mich in menschlicher Anatomie aus. Doch dieser Schmerz ist wahrhaft dämonisch. Er ist schlimmer als jede Qual, die ich jemals erlitten habe. Ich fühle mich, als würde ich auseinandergerissen und gleichzeitig von innen verbrannt. Ich berge mein Gesicht in den Händen.
»Es fühlt sich an, als ob es mich auffrißt«, stöhne ich.
Ray ist schon aufgestanden. »Wir brauchen Hilfe. Wir müssen es riskieren, ins Krankenhaus zu fahren.«
»Nein.« Ich fasse seine Hand, als er nach dem Autoschlüssel greift. »Ich werde es nicht bis dahin schaffen. Die Wehen sind schon zu weit fortgeschritten.«
Er kniet neben mir nieder. »Aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann.«
Ich versuche einzuatmen. »Das macht nichts. Alles geschieht von allein.«
»Soll ich Paula rufen?« Ray akzeptiert meine Freundschaft mit Paula, obwohl er es bisher merkwürdigerweise vermieden hat, sie persönlich kennenzulernen. Tatsächlich sehne ich mich nach ihr und ihrem beruhigenden Lächeln. Doch sie soll mich nicht in diesem Zustand sehen. Ich schüttle den Kopf und spüre, wie mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht rennt.
»Nein«, sage ich. »Das hier würde sie nur ängstigen. Wir müssen es allein durchstehen.«
»Soll ich Wasser heißmachen?«
Aus irgendeinem Grund amüsiert mich diese Frage. »Ja, mach Wasser heiß. Wir können das Baby dann gleich nach der Geburt abbrühen.« Ich schmunzle, als ich seinen fassungslosen Gesichtsausdruck sehe. »Das war ein Scherz, Ray.«
Doch er starrt mich noch immer so merkwürdig an. Er spricht mit mir wie zu einer Fremden. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich nur wegen dieses Babys zurückgekommen bin. Ich will nicht, daß ihr etwas zustößt.«
Erneut setzen Wehen ein, ich krümme mich vor Schmerzen, und Rays Gerede ist mir egal. Der Schmerz macht mich wütend. »Wenn hier irgend jemandem etwas zustößt, dann allein mir«, flüstere ich.
»Sita?«
»Hol endlich das verfluchte Wasser.«
Meine Tochter wird eine Viertelstunde später geboren, und sie reißt mich ein ganzes Stück auf, als sie das Licht der Welt erblickt. Alles um mich herum ist blutüberströmt, und ich weiß, daß ich aufpassen muß, nicht zu verbluten. Erst jetzt erlaube ich Ray, den Notarzt zu rufen. Doch bevor er zum Telefon geht, legt er mir das blutige Kind auf die Brust. Er hat die Nabelschnur mit einem sterilisierten Messer aus der Küche durchtrennt. Während ich daliege und versuche, nicht in Ohnmacht zu versinken, sehe ich meiner Tochter in die dunkelblauen Augen – und sie starrt zurück. Sie schreit nicht und gibt auch sonst keine Geräusche von sich. Im Moment bin ich nur erleichtert, daß sie atmet.
Doch in ihrem Blick liegt eine Wachheit, die mich irgendwie beunruhigt. Sie blickt mich an, als ob sie mich wirklich sehen könnte, dabei weiß ich aus Fachbüchern, daß ein fünf Minuten altes Baby die Augen nicht fixieren kann. Doch sie betrachtet mich, als ob sie mich kennt, und mir ergeht es bei ihr nicht anders. Ich kenne sie, aber sie ist nicht die sanfte und fröhliche Lalita, wiedergeboren aus der Vergangenheit. Sie ist jemand anders, jemand, dem man vor langer Zeit, als die Menschen den Göttern im Himmel und den vergessenen Geschöpfen unter der Erde noch näher waren, einen Tempel errichtet hat. Ich spüre, daß es so ist. Ich zittere, als ich sie angucke, und doch halte ich sie fest. Ihr Name gleitet förmlich über meine aufgesprungenen, blutigen Lippen, ich spreche ihn nicht bewußt aus. Der Name ist ein Mantra, ein Gebet, und gleichzeitig ein Begriff für das, was nicht benannt werden kann.
»Kalika«, nenne ich sie. Kali Ma.
Nicht sie, die spielt. Sondern sie, die zerstört.
Und doch
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