Das Erbe des Alchimisten
erfüllt. Doch fünfzig Jahrhunderte können nicht einfach vergessen, die Geschichte dieser Welt kann nicht neu geschrieben werden. Ich lebe in einem Vorort und halte mich an die Gesetze und Lebensgewohnheiten meines Landes. Ich habe eine Büchereikarte, und ich überlege, mir einen kleinen Hund anzuschaffen. Und das, obwohl ich zuvor Abertausende von ihnen auf brutalste und gnadenloseste Weise getötet habe. Das ist eine Tatsache, eine blutige Tatsache, und vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie Buße und Gerechtigkeit. Der Gedanke, daß ich für meine Vergangenheit bestraft werde, kommt mir, als meine Schwangerschaft problematisch zu werden beginnt.
Es sind keine normalen Schwierigkeiten.
Es sind Schwierigkeiten ganz besonderer, nämlich übernatürlicher Art. Das Baby wächst viel schneller als es sollte. Wie ich schon zu Paula gesagt
habe, kann ich höchstens im zweiten Monat sein, und doch wache ich eine Woche nach unserem Kennenlernen auf, weil mich etwas in den Bauch tritt. Nachdem ich ins Badezimmer gehastet bin und dort das Licht angeschaltet habe – ich kann in der Dunkelheit nicht mehr so gut sehen – erkenne ich fassungslos, wie sich mein Bauch durch das dünne Nachthemd nach außen wölbt. Während weniger Stunden hat sich das Baby in seinem Wachstum um Monate weiterentwickelt.
»Ray!« rufe ich. »Ray!«
Er kommt angerannt und braucht ewig lange, um zu erkennen, was mich so erschreckt hat. Schließlich legt er eine Hand auf meinen gewölbten Bauch. »Und das ist nicht normal?«
»Bist du schwachsinnig?« herrsche ich ihn an und schiebe seine Hand beiseite. »Sie kann kein Mensch sein!«
»Aber wir sind Menschen«, sagt er.
»Sind wir das?«
Er legt eine Hand auf meine Schulter. »Dieses beschleunigte Wachstum hat gar nichts Schlimmes zu bedeuten.«
Ich habe Mühe zu atmen. Ich hatte so sehr gehofft, daß die Vergangenheit wirklich vorüber ist. Aber es gibt keine Zukunft, nicht wirklich jedenfalls. Sie ist nur ein Phantom, ein Traum von etwas, das so nie existieren wird.
»Alles, was abnorm ist, ist schlimm«, beharre ich. »Besonders dann, wenn du die Frage, ob du jemals ein Vampir gewesen bist, mit ja beantworten mußt.«
»Das Kind kann kein Vampir sein«, bleibt Ray bei seiner Meinung. »Vampire pflanzen sich auf diese Weise nicht fort.«
»Du meinst, daß wir bisher keinen Fall kennen, in dem sie das so getan haben«, entgegne ich. »Hat es denn je zuvor einen Vampir gegeben, der wieder Mensch geworden ist? Dieser ganze Vorgang ist doch neu.« Ich beuge mich vornüber und spucke ins Waschbecken. Meine Spucke ist blutig, denn ich habe mir vorhin vor Schreck auf die Unterlippe gebissen. »Es ist ein böses Omen«, sage ich.
Ray streicht beruhigend über meinen Rücken. »Vielleicht solltest du einen Arzt aufsuchen. Das wolltest du doch ohnehin irgendwann tun.«
Ich lache bitter auf. »Ich kann zu keinem Arzt gehen. Vergiß nicht, daß wir untergetaucht sind. Ärzte informieren die Behörden, wenn sich unter ihren Patienten Monster befinden. Junge Frauen, die in drei Monaten ein Baby austragen.« Wieder tritt das Ungeborene gegen meinen Leib. Ich starre auf die Wölbung meines Bauches im Spiegel. »Falls es überhaupt so lange dauert.«
Meine Aussage erweist sich als prophetisch. Während der folgenden vier Tage wächst das Baby unglaublich schnell – es braucht etwa vierundzwanzig Stunden für die Entwicklung, die im Normalfall einen Monat beanspruchen würde. Während dieser Zeit bin ich ständig hungrig und durstig, wobei ich selten die Toilette aufsuchen muß. Offenbar verbrauche ich eine ungeheure Energie. Besonders auf rotes Fleisch bin ich ganz wild. Ich esse drei Hamburger zum Frühstück und abends vier Steaks, die ich mit Flaschen von Evian hinunterspüle. Trotzdem bin ich immer hungrig, durstig – und voller Angst. Was würde eine Ultraschalluntersuchung zeigen, wenn ich sie denn vornehmen ließe? Ein gehörntes Wesen, das sich über die Schallwellen amüsiert?
Während dieser Zeit meide ich Paula und den Rest der Welt. Ray ist mein einziger Gefährte. Er hält meine Hand und schweigt meistens. Was sollte er auch sagen? Die Zeit wird zeigen, was uns erwartet.
Fünf Tage, nachdem ich mitten in der Nacht erwacht bin und entsetzt begriffen habe, wie schnell das Kind in mir wächst, erwache ich in den frühen Morgenstunden. Ich habe schreckliche Schmerzen, es sind richtige Unterleibskrämpfe. Bevor Ray erwacht, erinnere ich mich daran, wie es war, als ich vor fünftausend Jahren
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