Das Erbe des Atoms
widerwilligen Respekt. »Fünfzig Prozent«, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und zahlte den beiden Männern das Geld aus. Die zwei verneigten sich schnell, dann drehten sie um und verschwanden hinter dicken Samtportieren, die die Tür verbargen, durch die sie hereingekommen waren. Lydia blieb zurück, allein mit ihren Gedanken.
12.
Im Laufe der Jahre war der Oberherr ein kränkelnder alter Mann geworden. Mit einundsiebzig Jahren war er auf dem linken Auge beinahe blind, und nur seine Stimme war kräftig geblieben. Er hatte einen dröhnenden Bariton, der die Herzen von Verbrechern noch immer mit Schrecken erfüllte, wenn er auf dem Stuhl des Hochgerichts saß. Dies war eine Pflicht, die er wegen ihrer sitzenden Natur mehr und mehr kultivierte, als die raschen Monate seines Lebensabends dahingingen.
Das Richteramt hatte eine weitere Eigenheit. Gelegentlich, nachdem er sich in einer Sache entschieden hatte, obwohl die Anwälte der gegnerischen Parteien einander noch in den Haaren lagen – ließ er seine Gedanken zu dem immer dringender werdenden Zukunftsproblem der Familie wandern.
»Ich habe keine andere Wahl«, murmelte er eines Nachmittags zu sich selbst. »Ich muß alle diese jungen Leute persönlich sehen und ihren Wert als mögliche Nachfolger einschätzen.«
Ganz bewußt schloß er auch den Mutanten in den Kreis derjenigen ein, die er besuchen wollte.
Am Abend beging er den Fehler, zu lange ohne eine Decke auf dem Balkon zu sitzen. Er erkältete sich und verbrachte den ganzen folgenden Monat im Bett. In dieser Zeit, als er hilflos auf seinem Rücken lag und sich seines schwachen Körpers akut bewußt war, wurde ihm endlich klar, daß er bestenfalls noch einige wenige Jahre zu leben hatte. Er durfte nicht länger zögern, seinen Nachfolger zu bestimmen. Trotz seiner persönlichen Abneigung für Tews begann er auf seine Frau zu hören, zuerst widerwillig, dann allmählich zugänglicher.
»Erinnere dich an deinen Traum, der Welt ein geeintes Imperium zu hinterlassen«, sagte sie ihm wieder und wieder. »Willst du jetzt, wo es darauf ankommt, alles dem blinden Zufall überlassen? Die Prinzen Jerrin und Draid sind noch zu jung. Jerrin ist sicherlich der brillanteste junge Mann seiner Generation. Er ist offensichtlich ein zukünftiger Herrscher und sollte in deinem letzten Willen als Thronfolger erwähnt werden. Aber er ist noch zu jung. Du kannst die Herrschaft über das Sonnensystem nicht einem jungen Mann von vierundzwanzig Jahren anvertrauen.«
Medron Linn regte sich unbehaglich. Er bemerkte, daß in ihrer Argumentation jeder Hinweis auf die Gründe von Prinz Tews Exil fehlte. Und sie war zu klug, um ihre Logik auch nur von der leisesten Andeutung der emotionalen Tatsache trüben zu lassen, daß Tews ihr Sohn war.
»Es gibt natürlich«, fuhr Lydia fort, »die Onkel der Jungen von der mütterlichen Seite, beides tüchtige Administratoren und liebenswerte Menschen, aber ohne die nötige Willenskraft.«
Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Und dann sind da noch deine Töchter und Schwiegersöhne und ihre Kinder.«
»Vergiß sie.« Der Oberherr, abgezehrt und bleich in den Kissen liegend, hob matt eine Hand und winkte schwächlich ab. An der zweiten Wahl war er nicht interessiert. »Du hast Clane vergessen«, sagte er endlich.
»Den Mutanten?« sagte Lydia überrascht. »Ist das dein Ernst?«
Medron Linn blieb still. Er mußte sich eingestehen, daß er selbst nicht glaubte, mit diesem Vorschlag durchzukommen. Er hatte ihn auch nur gemacht, um die Entscheidung zu verzögern. Er begriff, daß er unerbittlich gedrängt wurde, Lydias Sohn aus erster Ehe zu seinem Erben und Thronfolger zu machen.
Der entscheidende Faktor war schließlich nur zum Teil Lydias Drängen; in erster Linie war es seine verzweifelte Erkenntnis, daß er keine Wahl hatte. Aber noch bevor er seine Entscheidung jemandem anvertraut hatte, besuchte ihn die jüngere seiner zwei Töchter aus erster Ehe am Krankenbett. Sie bat ihn, er möge ihre Scheidung von ihrem gegenwärtigen Ehemann genehmigen und ihr gleichzeitig erlauben, den exilierten Tews zu heiraten.
»Ich habe Tews immer geliebt«, sagte sie, »und ich bin bereit, zu ihm ins Exil zu gehen.«
Das war eine so faszinierende Aussicht, daß der alte Mann völlig getäuscht wurde. Keinen Augenblick kam ihm die Vermutung, daß Lydia zwei Tage damit verbracht hatte, die vorsichtige Gudrun davon zu überzeugen, daß hier ihre einzige Chance war, die erste Dame des Reiches
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