Das Erbe des Blutes - Roman
einem Baby-Massagekurs.«
Foster drehte sich um und sah sie an. Normalerweise hätte er dies als Vorwand genommen, um sie aufzuziehen, aber der Fall hatte ihm zu sehr zugesetzt.
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Drei riesenhafte Krähen krächzten beim Spielen, schlugen Volten und jagten einander im Sturzflug. Ihre pechschwarzen Federn zeichneten sich scharf gegen den grauen Himmel ab. Nigel Barnes, im bis oben hin zugeknöpften schwarzen Dufflecoat mit Wollschal und einem abgenutzten braunen Ranzen, beobachtete die Krähen hinter seiner schwarz gerahmten Brille und fragte sich, wie viele von ihnen wohl für einen Mord erforderlich wären. Bestimmt mehr als drei, dachte er.
Seine Aufmerksamkeit wanderte von den lärmenden Krähen himmelwärts. Sicher versuchte die Sonne gerade die dichte Wolkendecke zu durchbrechen. Bis das gelänge, war er jedoch schachmatt gesetzt, und der kleine Rasierspiegel in seiner Tasche blieb überflüssig.
Seufzend betrachtete er die Grabsteine vor sich. Wie viele unerfüllte Hoffnungen und Träume mochten hier begraben liegen? Hunderte. Tausende vielleicht. Zu seiner Linken befand sich ein prächtiger von Bäumen gesäumter Weg mit imposanten Mausoleen, ein Zeugnis viktorianischer Obsession von Tod und Trauer, allesamt Monumente für längst vergessene Tote, dort, wo die Bedeutenden und Wohltätigen der Londoner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Viele davon nicht unter der Erde, sondern darüber. Weiter hinten konnte Nigel die Umrisse einer anglikanischen gotischen Kapelle erkennen, unter der sich die Katakomben befanden. Er war einmal dort unten gewesen und hatte den Schauder jede einzelne Sekunde genossen, insbesondere den Augenblick, als der Führer verschwörerisch meinte, wenn der Einbalsamierer seine Arbeit
nicht ordentlich verrichtete, wären die dort beengt liegenden Leichen nicht selten aufgrund der Verwesungsgase explodiert. Die gesamte Gruppe hatte nervös gelacht und sich gegruselt.
Der Friedhof von Kensal Green war einer seiner Lieblingsorte. Was das Makabre anbelangte, konnte er es lediglich mit dem Highgate Cemetry aufnehmen. Die Viktorianer wussten, wie man den Tod am besten in Szene setzt. Ganz anders als wir, dachte er. Heute verbrennen wir Menschen und machen uns die Hände an ihnen nicht schmutzig. In fünfzig oder hundert Jahren wird es keine Gräber mehr geben, zu denen Ahnenforscher noch pilgern können, um zukünftige Generationen aufzuspüren, Inschriften zu orten und zu dechiffrieren, genauso wenig wie es angesichts von E-Mails dann noch Briefe zur Lektüre und Information geben wird. Nichts ist mehr von Dauer, für die Ewigkeit, dachte er, alles dreht sich nur noch um das Hier und Jetzt.
Er blickte sich um und sah sich im Wind biegende Bäume, struppige Büsche und das endlos erscheinende Durcheinander von überwucherten, ziemlich ramponierten Gräbern und Statuen. Außer ihm war niemand zu sehen. Nur er und Tausende von Toten. Es kam ihm so vor, als hätte er eine verlorene Welt betreten. Nur das entfernte Rauschen des Verkehrs, begleitet von Sirenen, Londons konstanter Geräuschkulisse, gab ihm zu erkennen, in welchem Jahrhundert er sich gerade befand. Es fühlte sich gut an, draußen im Freien zu sein, weg von den Abgasen der verstopften Straßen. Im Zentrum Londons gab es nur wenige solcher Freiluftoasen; Orte, wo man ganz in Ruhe zur Besinnung kommen konnte. Da waren natürlich noch die anderen Friedhöfe, ab und zu gab es einen Platz mit einem nur von den
Anwohnern zu benutzenden Park und ein paar kleinere öffentliche Parks, aber mehr nicht. Nigel wusste, dass dieser Friedhof vor hundertfünfzig Jahren noch auf freiem Feld lag. Das war ja der Grundgedanke. Die vielen überfüllten Friedhöfe mitten in der Stadt hatten begonnen, ihre verwesenden Bewohner auszuspeien, und der hierdurch hervorgerufene Fäulnisgestank löste Krankheiten aus - das glaubte man zumindest. Deshalb legte man außerhalb der Stadt neue Friedhöfe an, der in Brookwood verfügte sogar über eine eigene Verkehrsanbindung, um die Verstorbenen aus der Stadt zu überführen: London Necropolis Station. Doch schon bald hatte Londons unersättlicher Hunger die freien Flächen in alle Himmelsrichtungen vereinnahmt.
Nigel sah auf seine Uhr: zehn Uhr dreißig. Aus der Manteltasche zog er nun ein verknittertes Blatt hervor, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte. »Parzelle 103« stand darauf. Das Grab von Cornelius Tiplady, Architekt, 1845- 85. Sein Bestreben bestand darin
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