Das Erbe des Blutes - Roman
Aber wenigstens hörte er auf, immer und immer wieder den Brief zu lesen.«
Liza stand auf und schlurfte zu einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums. Sie zog eine Schublade auf und kramte darin herum. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Nigel konnte es nicht mehr aushalten. Nun mach schon!, dachte er und warf einen ungeduldigen Blick zu der Uhr auf dem Kaminsims. Schließlich kam die alte Frau mit einem ordentlich gefalteten Blatt vergilbten Papiers zurück.
»Dies ist der Brief, den ich ihm gezeigt habe.« Sie übergab ihn. »Das ist der Abschiedsbrief, den Segars Sohn Esau schrieb. Karl las ihn fast jeden Abend.«
Heather öffnete ihn vorsichtig. Das Papier war brüchig und an den Knicken so abgegriffen, dass es fast auseinanderfiel. Nigel beugte sich vor, damit er den Brief ebenfalls lesen
konnte. Das Geschriebene war hingekritzelt, jedoch lesbar. Es gab keine Anrede, keine Unterschrift, aber für Nigel sah der Brief echt aus.
Ich wusste, dass er ein Mörder war. Ich kann nicht sagen, was mich zu diesem Schluss brachte. Sein Blick, die Stunden, die er weg blieb, das Gefühl einer schrecklichen Vorahnung. Als die Polizei ein Opfer nach dem anderen entdeckte, wurde mir immer klarer, dass mein Vater dafür die Verantwortung trug. Ich hielt keinen Beweis in der Hand, abgesehen von seinen nächtlichen Ausflügen und einem kalten, hasserfüllten Glimmen in seinen Augen. Er hatte schon lange aufgehört, mit mir zu reden. Ich hatte ihn enttäuscht, so viel steht fest. Ich tat, was ich konnte, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Eines Nachts hörte ich ihn das Haus verlassen. Ich stieg durch mein Fenster auf die Straße hinab. Es herrschte dichter Nebel, der die Stadt einhüllte und die Geräusche dämpfte. Ich lauschte einfach und folgte seinem geschmeidigen wolfsartigen Gang. Ich beschattete ihn die ganze Zeit über, bis er eine nach durchzechter Nacht heimwärts schwankende arme Seele packte. Ich hörte einen dumpfen Schrei und beobachtete dann, wie das Opfer zu Boden ging. Mein Vater wandte sich um, ich schlich mich fort, und dann machte er sich wieder auf den Weg nach Hause.
Es gelang mir nicht, vor ihm zurück zu sein. Am nächsten Morgen fragte er mich, wo ich gewesen sei. Ich legte mir eine Geschichte zurecht, ich hätte einen Freund getroffen, obgleich ich wusste, dass ich mir damit eine Tracht Prügel einhandeln würde. Er ließ erst von mir ab, als meine Mutter ihn anflehte. Ich lag bäuchlings auf meinem Bett und weinte, während meine Mutter die mir durch den Gurt an Rücken und Gesäß zugefügten Wunden versorgte. Ich betete zu Gott, die
Polizei möge kommen und ihn fortschaffen. Aber sie kam nicht.
Von dem Tag an ergriff der Irrsinn immer mehr von ihm Besitz. Er zwang uns, viermal am Tag zu beten. Er schlug mich unaufhörlich. Dann kam die bewusste Nacht. Er zwang uns, ihm in den Keller zu folgen. Seitdem erinnere ich mich jede Nacht an den feuchten Geruch, den kalten Boden, dann an den Lärm… wie meine Mutter gurgelte, hustete und an ihrem eigenen Blut erstickte. Er schnappte mich und stieß mir mit weit aufgerissenen Augen wie wahnsinnig das Messer in den Hals. Nur daran erinnere ich mich noch.
Von da an war ich stumm, um das dunkle Geheimnis tief in meinem Herzen zu vergraben. Bis jetzt. Bis zu diesem Tag, an dem ich meinem eigenen vermaledeiten Leben ein Ende setze. Ich habe dasselbe Blut wie er. Mit mir hört es auf. Es ist meine inbrünstige letzte Hoffnung, dass diejenigen, die mir folgen, ohne diesen Makel auf ihrer Seele werden leben können.
Heather faltete den Brief wieder zusammen. »Sie haben gesagt, in letzter Zeit sei er nicht mehr oft vorbeigekommen«, sagte sie.
Liza schüttelte den Kopf. »Ein- oder zweimal im Jahr. Ich weiß nicht so genau, was er macht. Er hat schon eine ganze Weile kein Buch mehr geschrieben. Normalerweise bringt er mir ein Exemplar vorbei, aber das ist schon über ein Jahr nicht mehr passiert.Wenn er schrieb, schien es ihm ganz gut zu gehen. Ich glaube, er dachte, die Welt würde ihm zuhören, das hat sie aber nicht getan. Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er gesagt, er würde an einem anderen Projekt arbeiten.«
»Wissen Sie, was er macht? Wohin er geht? Hat er Freunde?«
»Mittlerweile nicht mehr. Früher hat er viel Zeit in der Umgebung des Hauses verbracht.«
»Was für ein Haus?«
»In Pamber Street. Das Haus von Segar Kellogg.«
Als Foster zu sich kam, konnte er nicht sprechen. Sein Mund stand weit offen, als würde er gähnen, aber er konnte
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