Das Erbe des Bösen
Müh und Not gelang es Rashid, wieder auf die eigene Spur zurückzukommen. Hinter ihm wurde heftig gehupt. Hoffentlich würde ihn niemand anzeigen.
|304| Der Staub auf dem Ärmel war verschwunden. Wie hatte er nur so blöd sein können, ihn wegzublasen, fragte sich Rashid. Wenn das wirklich Uranpulver war, hatte es sich jetzt in der Luft und in seinen Lungen ausgebreitet.
Nein. Das war alles idiotische Einbildung. Uranstaub würde man nicht einmal sehen . . . War er vor lauter Anspannung etwa schon hysterisch geworden?
Der Passat, der sich in einigem Abstand hinter ihm gehalten hatte, fuhr auf der linken Spur neben den Opel Vectra. Rashid blickte zur Seite und sah, wie Saiid und Utabar ihn mit großen Augen anstarrten. Saiid, der am Steuer saß, schüttelte langsam den Kopf. Rashid versuchte eine Miene aufzusetzen, die signalisierte, dass er alles im Griff hatte. Dazu zeigte er seinen Kameraden den erhobenen Daumen. Darauf beschleunigte der Passat und verschwand zwischen den anderen Fahrzeugen.
Kurz darauf sah Rashid die Schilder, die den deutsch-holländischen Grenzübergang ankündigten. Er reduzierte die Geschwindigkeit. An der Grenze wurde nicht ständig kontrolliert, aber hin und wieder wurden Stichproben gemacht.
Rashid überquerte die Grenze. Der nächste Halt würde Venlo sein, wo sie essen wollten. Eine richtige Pause war ohnehin angebracht. Zeit hatten sie genug, und bis Calais, der Stadt am Ärmelkanal, waren es noch knapp dreihundertfünfzig Kilometer.
Erik schaute aus dem Fenster der S-Bahn , die mitten durch Berlin fuhr. Das moderne Stahl- und Glasgebilde des Hauptbahnhofs erhob sich vor der anbrechenden Abenddämmerung. Erik hatte im Hotel seine Reisetasche geholt und befand sich nun bereits auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld, da er keinen passenden Flug von Tegel aus bekommen hatte. Er war knapp dran, und wegen des Verkehrs hatte er es nicht gewagt, ein Taxi zu nehmen.
Er war erschöpft, und er kam sich wie ein Außenseiter vor, der nirgendwo dazugehörte. Er wusste, sein Leben würde nie mehr sein wie früher. Er war nach Deutschland gekommen, um seinen verschwunden Vater zu suchen. Und was hatte er gefunden?
|305| Sich selbst. Einen Fremden. Die Person, die er wirklich war. Einen Mann, in dessen Adern das Blut von Eltern floss, die ihre besten Jahre dem Naziregime gewidmet hatten.
Begriffe wie DNA, Gene und Erbgut hatten für Erik schlagartig eine völlig neue Bedeutung bekommen. Mit niederschmetternder Deutlichkeit begriff er, aus was für einem kranken und gefährlichen Blickwinkel man die Forschungsergebnisse und Dienstleistungen seiner Firma auch betrachten konnte. All die Jahre hatte er an das Gute gedacht, für das er mit seiner Firma stand. Die Resultate seiner Arbeit ließen sich aber genausogut für die grausamsten Unterdrückungsmaschinerien einspannen – entweder direkt und unmittelbar, oder aber allmählich und schleichend, wenn nötig sogar heimlich.
Erik war Wissenschaftler mit Leib und Seele; seine Karriere, ja sein ganzes Leben aber war offenbar von einer Frau gesteuert worden, die während des Krieges Rädchen im Getriebe der grausamsten Rassenlehre in der Geschichte war – Eriks Mutter war tatsächlich eine Kollegin Josef Mengeles gewesen. Solche Menschen, solche an unbeschreiblichen Grausamkeiten beteiligten »Wissenschaftler«, waren groteske Zerrbilder des wahren Forschers.
Es gab für Erik keinen Fluchtweg. Jetzt wollte er alles wissen, wie schmerzlich es auch sein mochte. Schweren Herzens las er einen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1942.
3.3 Mit Rolf und Gerhard zusammen mehrfach mit dem Zug in Leipzig gewesen. Der Versuchsreaktor L-IV, den Heisenberg dort letzten Monat gebaut hat, ist der erste wirklich bedeutsame Fortschritt. Die Neutronen vermehren sich um dreizehn Prozent. Dennoch hörte ich die Führung bedauern, dass Hitler wohl kaum über die wirtschaftlichen Ressourcen in industriellem Maßstab verfüge, die für das Projekt dringend benötigt würden.
Erik übersprang längere Passagen. April 1943.
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Schwere Bombenangriffe auf Berlin. Man hat begonnen, Institute in Sicherheit zu bringen. Das Problem ist nach wie vor die Trennung von U-235. Katharinas Mutter krank, haben sie am Wochenende besucht.
Erik blätterte weiter. Die Eintragungen wurden immer kürzer, die Handschrift immer undeutlicher. Anfang August 1943.
Ich träume sogar nachts schon von U-235. Die Entwicklung der Ultrazentrifuge in Kiel hat den ganzen
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