Das Erbe des Bösen
Saiids Finger um den Drücker krümmte, aber er hörte noch den Schuss.
Wie in Trance lauschte Erik der Stimme seines Vaters. Der Vater erzählte von dem schönen, zielstrebigen Mädchen aus Stockholm, das vor Energie und Wissensdurst geradezu gestrahlt hatte.
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»Von Verschuer, der Leiter des Instituts, war von Ingrids Intelligenz beeindruckt. Angeblich hatte man am Institut für Eugenik lange nach so jemandem gesucht. Ich weiß, das ist für dich sehr schwer anzuhören. Auch in Amerika habe ich nicht gleich gewusst, welcher Art die Versuche an ihrem Institut gewesen waren. Und im Dienst der Amerikaner setzte sie ihre unmenschlichen Experimente weiter fort. Bei Menschenversuchen der Atomenergiekommission und der Armee . . .«
Erik schluckte mühsam. Über die Experimente hatte es in den Neunzigerjahren einige Aufregung gegeben, auch er war schockiert gewesen – und hatte sich gefragt, was es für Wissenschaftler waren, die sich für so etwas hergaben.
Er sah einen freien Parkplatz am Straßenrand und bremste. Hinter ihm hupte es, dadurch merkte er erst, dass er einem Fahrzeug auf der Nebenspur den Weg versperrte. Er ließ das Auto vorbei und parkte ein. Die Häuser im multikulturellen Streatham waren schäbig, die Straßen voller Müll. Dies hier war alles andere als eine angenehme Wohngegend.
»Ingrid schrieb auch geheime Forschungsberichte für die CIA und wer weiß, wofür noch. Die Supermächte waren erbärmlich, Erik. Die Doppelmoral der Amerikaner bereitete mir Übelkeit. Von den Nazis sprach man als der Inkarnation des Bösen, aber gleichzeitig stellte man sie als Wissenschaftler ein. Und noch mehr Übelkeit bereitete mir mein eigenes Verhalten in Deutschland . . .«
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde die Stimme des Vaters furchterregend düster.
»Wie Hunderte anderer in Deutschland angeworbene Wissenschaftler auch, bauten deine Mutter und ich uns ein neues Leben in unserer neuen Heimat auf. Aber je mehr ich
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über die Grausamkeiten des Naziregimes erfuhr, umso schlechter ging es mir. Am schlimmsten war, dass Ingrid mich überhaupt nicht zu verstehen schien . . .«
Sein Vater musste eine Pause einlegen. Erik wartete beinahe ängstlich ab. Er hatte geglaubt, die Enthüllung habe bereits stattgefunden, aber dann begriff er, dass ihm das Schwerste noch bevorstand.
»Ingrid behauptete sogar, meine geistige Gesundheit sei erschüttert. Von da an konnte ich mich ihr nicht mehr mitteilen, ihr nichts mehr sagen von dem, was in mir vorging. Dennoch führten wir unsere Ehe fort. Ich wollte nicht alleine sein. Und eine Verbindung mit einem anderen Menschen war ausgeschlossen . . . Ich hätte niemandem die Wahrheit über meine Vergangenheit erzählen können, aber ich hätte auch nicht lügen können.«
Aber mich hast du dein Leben lang angelogen, dachte Erik eher traurig als wütend. Zumindest hast du über vieles geschwiegen. Genau: Du hast geschwiegen. Gelogen hast du tatsächlich nicht. Erik merkte, wie er mit aller Gewalt daran festhalten wollte, von seinem Vater nicht ebenso betrogen worden zu sein wie von seiner Mutter.
»Ingrid und ich, wir waren ein Ehepaar, und trotz allem versuchte ich, deine Mutter zu lieben, so gut ich konnte. Vielleicht war es nie genug, aber ich versuchte es wenigstens . . .«
Der Vater verschluckte das Ende des Satzes, dann lachte er plötzlich unvermittelt auf.
»Ingrid hat sich nie die Mühe gemacht, mehr als zehn Wörter Finnisch zu lernen:
Hyvää päivää. Sauna. Sisu. Perkele . . .
Erst deine Geburt veränderte alles. Ingrid war gerade erst
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mit dem kleinen Bündel von der Entbindungsklinik in Huntsville nach Hause gekommen, da guckte sie mich auf einmal mit ihren großen, blauen Augen an und erklärte, sie wolle Finnisch lernen. Ich bremste sie, sagte, das sei nicht so leicht, und wollte wissen, was sie so plötzlich veranlasst hatte, sich für die Sprache zu begeistern.
›Du wirst mit dem Jungen Finnisch reden, und dann verstehe ich nichts. Ich will wenigstens ein bisschen primitives Finnisch lernen.‹
Und das hat sie getan. Fast ebenso schnell wie du. Und du warst immerhin ein Kleinkind, für das es sich gehört, zu lernen! Aber ich greife vor. Lange vor deiner Geburt, im Jahr 1950, kam die vorhin schon erwähnte Katharina dauerhaft in die Vereinigten Staaten.«
Katharina Kleve! Warum sprach der Vater von ihr?
»Ingrids Kommilitonin Katharina Kleve war in Berlin meine große Liebe
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