Das Erbe des Bösen
etwas anderes tun als Waffen zu entwickeln. Endlich durften wir uns dem widmen, wovon wir unser Leben lang geträumt hatten.«
Der Oberst lächelte vor sich hin und legte die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander.
»Außer mir waren im Rahmen der Apollo- und Saturnus-Programme nahezu vierhunderttausend Menschen mittel- und unmittelbar beschäftigt. Apollo nahm etwa ein Prozent des Bruttosozialprodukts der USA in Anspruch. Auf uns lastete ein immenser Druck. Noch immer tut es mir leid, dass ich in deiner Kindheit so wenig Zeit für dich hatte.
Aber so viel wir auch arbeiteten, wir waren von unserem Ziel Lichtjahre entfernt. Doch dann zeichneten sich die ersten Erfolge ab – bis wir es im Juli 1969 schließlich geschafft hatten. Über hundert Milliarden Dollar, unzählige Millionen von Arbeitsstunden, zehn Jahre geballte Anstrengung einer ganzen Nation. Es war der größte Propagandatriumph des Kalten Kriegs, aber was hatte man bei all dem Einsatz konkret gewonnen? Dreihundertzweiundachtzig Kilo Mondgestein.«
Triumphierend stand der Oberst auf. Endlich!
|511| Erik saß am Schreibtisch seines Vaters in Helsinki und schaute aus dem Fenster aufs Meer.
Der Rechtsanwalt seiner Mutter aus England hatte angerufen. Am Abend vor ihrem Tod hatte sie ihm mitgeteilt, wo sie beerdigt werden wollte: neben Rolf, nicht allein. Mehr hatte sie nicht gesagt, nur ihren Namen und diese eine Bitte. Erik würde sie respektieren. Darum hatte er die Überführung seiner Mutter nach Helsinki veranlasst.
Er selbst würde mit Katja und den Kindern nach Finnland ziehen und im Ferienhaus auf der Insel vor Porvoo ein Sabbatjahr einlegen. Olivia und Emil waren von der Idee begeistert gewesen. Und Katja ebenfalls. Jetzt würden sie den vielen Worten über eine ökologischere Lebensweise endlich Taten folgen lassen. Ihr Brot würden sie mit der Publikation von Artikeln über die Chancen und Gefahren der Gentechnologie verdienen, und später würden sie versuchen, in den Dienst eines Pharmaunternehmens oder einer Forschungseinrichtung zu treten, um das zu tun, worum es bei der Genforschung letzten Endes ging: nach Heilungsmöglichkeiten für Krankheiten zu suchen, menschliches Leid zu lindern.
Erik hatte bereits den Verkauf seiner Gendo-Anteile an die anderen Mitbegründer der Firma vereinbart. Zunächst hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, das ganze Unternehmen abzuwickeln, doch er verspürte eine allzu große Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern. Stattdessen hatte er beschlossen, den Erlös aus dem Verkauf der Anteile der gemeinnützigen Institution
GeneWatch
zu spenden, die über die Gentechnologie und deren Einhaltung ethischer Werte wachte und auch Gendo im Blick behalten würde.
Unmittelbar nach seiner Ankunft in Helsinki war Erik bei Rechtsanwalt Tirkkonen gewesen, um die Kopie der von seinem Vater besprochenen Kassette abzuholen. Und in drei Stunden würde er bei der Sicherheitspolizei »im Zusammenhang mit dem Mord an Robert Plögger« vernommen werden. Mehr hatte ihm die SiPo vorab nicht verraten wollen, worauf Erik den Entschluss |512| gefasst hatte, der SiPo nicht mehr preiszugeben, als sie ihrerseits ihm zu enthüllen bereit wäre. Er hatte nicht vor, einer zu sein, der den Mund nicht halten kann – wie Katharina Kleve es ausgedrückt hatte.
Außer später an diesem Abend, wenn er Markku Plögger treffen würde, denn der hatte das Recht, alles zu hören, was mit dem Tod seines Sohnes in Zusammenhang stand. Die Kassette von Eriks Vater hatte mit dieser Tragödie jedoch nichts zu tun.
Alles in allem war Erik entschlossen, die Empfehlung seines Halbbruders ernst zu nehmen. Er war entschlossen, weiterzuleben und zu vergessen.
Andrei.
Offenbar hatte sein Vater nie etwas von seinem zweiten Sohn erfahren. Oder würde Erik auf der Kassette noch etwas über Andrei hören?
Während er der Stimme seines Vaters vom Band noch einmal von Anfang an gelauscht hatte, hob Erik die noch immer auf dem Fußboden verstreuten Sachen auf und verstaute sie in Regalen, Schubläden und Schränken. All die persönlichen Dinge, die seinem Vater jahrzehntelang gedient hatten, und all die Fotos zu sehen und zu berühren und dabei die Stimme des Vaters vom Band zu hören – das hatte er jetzt gebraucht.
Als er an die Stelle gekommen war, die er noch nicht gehört hatte, setzte er sich und versuchte sich zu konzentrieren. Dann sah er überrascht auf: sein Vater hatte angekündigt, noch etwas zur Erbärmlichkeit der
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