Das Erbe des Bösen
Überraschung marschierte sie grußlos aus dem Haus und zu ihrem Wagen.
Entweder Erik hatte falsche Informationen und Ingrid sagte die Wahrheit, oder aber Ingrid war eine äußerst raffinierte Lügnerin.
Rolf sah bestürzt aus dem Fenster des Audis. Er konnte kaum atmen.
»Halten Sie an«, sagte er heiser. »Wir sind gerade vorbeigefahren.«
Er hatte den Ort sofort wiedererkannt, und ein seltsames Kribbeln schlich sich durch seine Glieder. Im Licht der Scheinwerfer lag nach einer Anhöhe die Kurve, an der damals die Straßensperre der SS gewesen war.
Es war geradezu gespenstisch, wie wenig sich die Gegend verändert hatte. Große Buchen, rechts der ansteigende Hang, links der plätschernde Bach. Manfred wendete auf einem Stück Wiese zwischen Straße und Bachufer.
Sie fuhren langsam zurück, behielten den Straßenrand im Auge, bis Manfred links eine Abzweigung entdeckte. Kein Wunder, dass sie den Weg vorher nicht bemerkt hatten, denn der Laubwald, durch den er führte, war ungemein üppig. Fast die ganze kurvenreiche Strecke von zwei Kilometern den Hügel hinauf kratzten die unteren Zweige der Bäume über das Dach des Audis. Ein robuster Geländewagen wäre hier besser gewesen.
Rolf blickte sich aufmerksam um. Plötzlich sah er auf der rechten |128| Seite dunkelgrünen Efeu, unter dem hier und da eine graue Steinmauer hervorschimmerte.
»Das ist es«, sagte Rolf kaum hörbar.
Die Einfahrt fand sich erst nach kurzer Suche, als die Reifen des Audis bereits im weichen Moos zu versinken drohten.
Rolfs Augen erfassten begierig den Anblick, den die Autoscheinwerfer zu erkennen gaben. Das große Herrenhaus war in noch schlimmerem Zustand als damals. In der DDR hatte man dafür offensichtlich keine Verwendung gehabt, und nach der Wiedervereinigung Deutschlands noch viel weniger.
Rolfs Verzweiflung wuchs. Er durfte die Männer mit ihren dubiosen Absichten auf keinen Fall zu dem Versteck führen. Aber was sollte er sonst tun? Und was würde erst geschehen, wenn sie tatsächlich das Uran in den Händen hielten? Dann bräuchten sie Rolf nicht mehr – schon gar nicht als Zeugen. Natürlich mussten sie ihn umbringen. Gab es irgendeinen Grund, es nicht zu tun? Aus gutem Willen und Dankbarkeit etwa? Er würde hier sterben, an diesem Ort, wo es ihm vor Jahrzehnten gelungen war, dem sicher geglaubten Tod zu entrinnen.
In diesem Fall war der Verlust eines einzigen Menschenlebens eine relativ kleine Angelegenheit. Wofür aber brauchten Hoffmann und seine Hintermänner das U-235?
Rolf stieg aus dem Wagen. Es war warm an diesem Abend. Er bekam eine Taschenlampe in die Hand gedrückt, und mit deren Hilfe fing er an, die Kapelle zu suchen.
Schließlich entdeckte er ihre Überreste. Zwei Wände standen noch in Teilen, das Dach war eingestürzt. Einen Moment lang starrte Rolf auf die Stelle vor der Wand, die um ein Haar seine letzte Ruhestätte gewesen wäre.
Dann gingen sie an der Ruine vorbei auf den Friedhof.
»Ich habe so eine Erinnerung, dass es das Grab eines Kindes war«, murmelte Rolf. »Ich glaube, das eines Jungen. Und es lag ziemlich nahe bei der Kapelle, wo die neueren Gräber sind. Jahreszahlen aus dem 19. Jahrhundert . . .«
Sie fingen unmittelbar neben der Kapelle an. Die jüngsten |129| Gräber waren die von jungen Männern: Hauptmann Oscar von Klingenberg, Cambrai 1917, Leutnant Caspar von Klingenberg, Verdun 1916 . . . Die adligen Offiziere waren also immerhin aus der Feuerhölle und den schlammigen Schützengräben des Ersten Weltkrieges in heimische Erde gebracht worden. Womöglich war mit diesen Männern das gesamte Geschlecht endgültig erloschen.
Zuvor hatte sich Rolf nicht einmal mehr an den Namen des Eigentümergeschlechts erinnern können. Jetzt stellte sich auf einmal auch Unsicherheit darüber ein, ob das betreffende Grab tatsächlich das eines Jungen war. Konnte es doch ein Mädchen gewesen sein? Hier, gleich nebenan, lagen zwei Mädchen in einem Grab, Angelica und Brigitte, Zwillinge. Das Jahr der Geburt und des Todes war dasselbe: 1909.
Rolf blieb stehen. Mit den Fingern fuhr er über die Löcher, die von den Kugeln aus den Maschinengewehren der Thunderbolts in den Grabstein geschlagen worden waren.
»Ist das hier das richtige Grab?«, fragte Hoffmann.
Rolf ging weiter. »Nein.«
Die Grabsteine ähnelten einander sehr, viele waren umgestürzt, weshalb Hoffmann und Manfred sie aufrichten mussten, damit man die Namen lesen konnte. Die Jahrzehnte hatten die vergoldeten Gravierungen
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