Das Erbe des Bösen
wenn Ingrid ihre Enkelkinder sehen wollte, musste sie auch die Gesellschaft ihrer Schwiegertochter ertragen.
Erik hatte die Idee mit der Mail ausgezeichnet gefunden und zu Katja gesagt, nun lerne sie endlich, wie man mit seiner Mutter umgehen müsse. Am Ende ihrer Mail hatte Katja geschrieben, sie müsse am Abend in die Firma und würde die Schwiegermutter darum gerne bitten, für diese Zeit auf die Kinder aufzupassen.
Ein wenig plagte Katja das schlechte Gewissen, aber das ließ sich leicht zum Schweigen bringen. Sie musste nur an all die unschönen Dinge denken, die Ingrid ihr im Lauf der Jahre geboten hatte und die sie hatte schlucken müssen.
In dem Moment fuhr der alte Rover vor. Katja hatte Emil und Olivia aufgefordert, die Oma ordentlich zu umarmen. Sie selbst |231| richtete sich vor dem Spiegel die Haare. Es ärgerte sie, dass sie sich ihrer Schwiegermutter immer noch stets von der besten Seite zeigen wollte, als hätte das irgendeine Bedeutung. Tatsächlich hatte Ingrid die Angewohnheit, Katja bei jeder Begegnung von Kopf bis Fuß zu taxieren, verkniff sich aber zunehmend ihre Kommentare. Vermutlich war in den Augen einer Mutter nichts und niemand gut genug für den eigenen Sohn.
Katja legte die Bürste aus der Hand und betrachtete sich im Spiegel. Das schlechte Gewissen war wieder erwacht. Was tat sie hier eigentlich? Hinterging eine alte Frau – ihre eigene Schwiegermutterr. War sie denn ein besserer Mensch? Vielleicht wollte Ingrid ja einfach ihre Vergangenheit oder auch nur ein paar Jugendsünden vergessen? Wer gab ihr, Katja, das Recht, die Geheimverstecke Ingrids zu durchsuchen? Vielleicht enthielten sie ja auch nur alte leidenschaftliche Liebesbriefe.
Plötzlich leuchteten vor ihrem inneren Auge Erinnerungsbilder aus ihrer eigenen Jugend auf, aus der Zeit vor Erik. Von Situationen, in die sie mit früheren Männern geraten war und über die sie noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Sie spürte, wie eine leichte Schamesröte sich über ihren Wangen ausbreitete.
Es läutete an der Tür. Katja hörte, wie die Kinder die Treppe hinunterstürmten und öffneten. Als sie selbst in die Diele trat, umarmten Emil und Olivia ihre Großmutter bereits überschwänglich.
Als sie Katja erblickte, richtete sich Ingrid auf.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Katja.
»Danke, dass du mir geschrieben hast.«
»Mir tut das alles so leid.«
»Vergessen wir das Ganze«, sagte Ingrid und klang dabei vollkommen aufrichtig.
Katja nickte leicht. Sie war sicher, dass Ingrid ihr verziehen hatte. Oder Ingrid hoffte einfach, alles würde so weitergehen wie früherr, ohne Fragen nach der Vergangenheit in Deutschland.
»Gibt es in der Firma Probleme?«
|232| »Nichts Außergewöhnliches«, erwiderte Katja. Aber es war wieder typisch: Ingrid war stets behilflich, wenn es um das Wohl der Firma ging.
»Ben und Harry sind dabei, einen Bericht fertigzustellen, ich hatte versprochen, ihnen dabei etwas unter die Arme greifen«, sagte Katja. Das stimmte sogar, bloß dass sie das nicht an diesem Abend tun würde.
»Wie hat sich Carl denn bis jetzt gemacht?«
»Bestens. In ihm steckt ordentlich Potenzial.«
»Das habe ich sofort gemerkt. Ich weiß nicht, ob Erik es dir erzählt hat, aber ich hatte mir seine Dissertation vom
Karolinska Institutet
kommen lassen und ihn daraufhin Erik empfohlen.«
Katja antwortete nicht, sondern zog sich den Mantel an. Es ärgerte sie über alle Maßen, dass Erik kein Wort über die »Empfehlung« seiner Mutter verloren hatte, als sie Carl eingestellt hatten.
Plötzlich zögerte sie kein Bisschen mehr, Eriks seltsamer Bitte nachzukommen und Ingrids Haus einen Besuch abzustatten.
Am Zeitungsständer des Kiosks in Espoo-Otaniemi, wo die TH Helsinki ihren Sitz hatte, prangte die gelbe Händlerschürze einer Boulevardzeitung mit der Schlagzeile: SONDERAUSGABE: RAKETENANGRIFF VON FINNLAND AUF ST. PETERSBURG.
Die Zeitungen waren in null Komma nichts ausverkauft. Im ersten Stock des nahe gelegenen roten Backsteingebäudes, in dem sich das Labor für Aerodynamik befand, saßen ein Ermittler der Zentralkripo und ein Kollege von der Sicherheitspolizei im Zimmer von Professor Pauli Rinne. Rinne war auf Flugmechanik spezialisiert und gehörte zu den führenden Flugkörperexperten Finnlands.
Auf dem Tisch war das Material ausgebreitet, das gerade erst aus Moskau gekommen war und detailliert die Komponenten beschrieb, die im Wrack der Rakete gefunden worden waren.
»Ja, das entspricht im
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