Das Erbe des Bösen
einige Kriegsinvaliden dem Knaben vom »Volkssturm« begreiflich gemacht, was zu tun war.
»RAUS! ALLES RAUS! SCHNELL! SCHNELL!«, schrie der Junge voller Panik im Falsett. Das Schlimmste, was passieren konnte, passierte hier und jetzt. Der Junge war gezwungen, die Menschenmenge in den Bombenhagel hinauszulassen.
Ingrid setzte sich als eine der letzten in Bewegung. Erst auf der Treppe nach oben bekam sie wieder etwas Luft. Durch die obere Tür strömten unfassbar helles Licht und Hitze herein. Erst da begriff Ingrid, wohinein sie da geraten war. Die Detonationen waren immer deutlicher zu hören, aber scheinbar von weiter weg.
Draußen erwartete sie ein gleißendes Licht, sämtliche Häuser an der Straße standen in Flammen. Der Himmel war schwarz von Qualm. Alles Licht stammte allein von den lodernden Flammen. Noch immer waren die Bomber über Berlin, aber man konnte sie nur noch hören. Die Menschen stürzten aus den Luftschutzkellern ins Freie, sie sanken nacheinander auf die Knie und drückten sich dann sofort flach auf den Boden. Ingrid wunderte sich zunächst darüber, aber dann begriff sie, dass auch draußen die Luft ausging. Der Feuersturm war dabei, allen Sauerstoff zu schlucken.
|224| Das Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Ingrid ließ sich auf alle Viere fallen, aber auch knapp über dem Boden war kaum noch Sauerstoff. Die Hitze war unerträglich, ihr Atem rasselte, die Lunge brannte. Reglos lag sie auf dem Bauch, versuchte, möglichst langsam zu atmen, aber ihr war klar, dass Qualm, Kohlenmonoxid und Giftgase rasch ihr Werk vollenden würden. In jenem Augenblick war sie ganz sicher, sterben zu müssen – so wie alle anderen Menschen um sie herum auch. Ihr war, als könnte man keinen Widerstand mehr leisten, aber dennoch . . . Nein. Nicht sterben! Jedenfalls nicht so! Nicht ersticken, nicht bei lebendigem Leib verbrennen!
Ingrid kroch einige Meter am Straßenrand entlang, bis sie einen Kanaldeckel entdeckte. Das war ihre letzte Chance. Sie drückte ihr Gesicht auf das Gitter und atmete ein.
Luft! Sie konnte atmen . . . Mit den Händen und mit ihrem Wintermantel schützte sie ihren Kopf. Die Luft roch schlecht und muffig, aber sie war kühl und man konnte sie atmen. In dem Moment und in den Stunden danach wäre sie bereit gewesen, jeden zu töten, der versucht hätte,
ihren
Kanaldeckel zu erobern.
Erst weit nach Mittag nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Sie drehte den Kopf und spürte, dass sie auch neben dem Kanaldeckel wieder atmen konnte. Der Wind hatte die dicksten Rauchwolken vertrieben, aber alle vier- und fünfstöckigen Häuser in der Invalidenstraße brannten noch immer. Überall sah man Asche, Glassplitter und zahllose Tote auf der Straße. Von überall her hörte man Verletzte weinen und stöhnen: »Hilfe, so helft mir doch! In Gottes Namen, helft mir doch!«
Feuerwehrautos waren nirgendwo zu sehen: Die deutsche Hauptstadt war an diesem Tag schlimmer traktiert worden als je zuvor. Mit größtmöglicher Effizienz hatte man die Widerstandskraft der Zivilbevölkerung gebrochen. Zwei Sanitätseinheiten durchkämmten die Straßen. Ein Mann im weißen Kittel beugte sich über Ingrid, um zu fragen, wie es ihr ginge.
»Mir fehlt nichts. Meine Lunge tat so weh, aber jetzt geht es schon wieder«, antwortete sie hustend.
|225| Der Mann schaute sie besorgt an. »Sie haben mindestens Verbrennungen zweiten oder dritten Grades an Ihren Händen. Spüren Sie denn nichts?«
Erst jetzt kam Ingrid auf die Idee, ihre Hände anzuschauen. Auf beiden Handrücken war die Haut total verbrannt.
»Am Lehrter Bahnhof ist eine Verbandsstation. Schaffen Sie es aus eigener Kraft dorthin?«
Vorsichtig rappelte Ingrid sich auf und erbrach sofort rußschwarzen Schleim. Der Kopfschmerz war so schneidend, wie sie es noch nie erlebt hatte. »Mir ist nicht einmal schwindlig. Aber ich würde lieber direkt nach Hause gehen. Fährt denn die U-Bahn ? Wissen Sie das?«
»Das glaube ich kaum. Aber wir werden Sie jetzt zur Verbandsstation bringen. Sie müssen aufpassen, dass sich die Wunden nicht entzünden.«
»Aber . . . mein Mann. Ich habe ihn krank alleine zu Haus zurückgelassen, ich muss . . .«
Angeblich hatte sie daraufhin das Bewusstsein verloren und war zur Verbandsstation gebracht worden. Erst nach Einbruch der Dunkelheit war sie nach Hause gekommen.
Nur dass es dieses Zuhause nicht mehr gab. Von dem fünfstöckigen Haus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts standen nur noch die Außenmauern. Das
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