Das Erbe des Bösen
lächerlich wie sinnlos vor. Wieso |255| sollte sie sich für ihre Forschungen schämen? Gut, da war der Gebrauch von Menschenmaterial, aber sonst . . . Trotzdem war es besser, wenn Erik oder andere Leute nicht alles erfuhren, solange sie noch am Leben war.
Ingrid erinnerte sich noch lebhaft an den warmen Sommertag – wahrscheinlich war das im Juli 1944 gewesen –, als ihre unmittelbare Vorgesetzte am Institut das Eintreffen der ersten Sendung mitteilte.
Auf den Hinterhof fuhr ein gewöhnlicher, geschlossener Opel-Personenwagen, aus dessen Kofferraum zwei S S-Offiziere in Uniform eine reisekoffergroße Holzkiste luden. Die Männer stellten sich als Ärzte des Krankenhauses Auschwitz vor. Die Augen- und Blutproben waren nur in Stroh und Eis verpackt, darum trieb man die Männer an, die Last schnell in die Kühlräume des Instituts zu schaffen.
»Das sind Zigeuneraugen«, lachte von Helmersen, als er Ingrids vorsichtige Frage nach der Herkunft der Augäpfel beantwortete. »Von Toten. Die brauchen sie nicht mehr.«
Ingrid konnte der Feststellung ihrer Vorgesetzten, dies sei nun wirklich etwas anderes als die ewigen Schmetterlinge, Fruchtfliegen und Kaninchen, nur zustimmen. An den genau klassifizierten Menschenaugen konnten sie die Erblichkeit des Pigments der Regenbogenhaut mit unerhörter Exaktheit untersuchen, auch bei ein- oder zweieiigen Zwillingen. Ein Teil der Augen stammte von Großeltern, Eltern und Kindern, die alle gleichzeitig gestorben waren. Wie war es möglich, dass der Tod bei allen gleichzeitig eingetreten ist, hatte sich Ingrid insgeheim gefragt. Aus einigen Augäpfeln schnitt man Proben, andere wurden mit einer Nadel auf einer Platte befestigt, wie bei einer Schmetterlingssammlung. Die Augenuntersuchung von Zwillingen war seit den Zwanzigerjahren Objekt des besonderen Interesses von Professor von Verschuerr.
Später waren die Lieferungen regelmäßiger gekommen: Blut, in Alkohol konservierte Innenorgane, sogar ein ganzes Skelett, das angeblich dadurch entstanden war, dass man die Leiche so |256| lange gekocht hatte, bis sich das Fleisch von den Knochen löste und man die Knochen in Petroleum einlegen konnte – eine Vorstellung, die Ingrid leichten Ekel bereitete. Auch per Post wurde Forschungsmaterial geschickt. Dann war das betreffende Paket mit einem Stempel versehen: »Kriegsmaterial – Eilig«, dadurch wurden die Sendungen beim Transport vorrangig behandelt.
Die Kapazitäten am Institut reichten nicht aus, um eine ausreichende Menge Blutproben zu untersuchen, darum wurden sie an das nahe gelegene Institut für Biochemie weitergereicht, dem Professor Adolf Butenandt vorstand. Er hatte im Blut die männlichen und weiblichen Geschlechtshormone entdeckt und 1939 den Nobelpreis für Chemie erhalten.
Im darauffolgenden Winter lernte Ingrid den leitenden Arzt des Auschwitzer Krankenhauses, den Doktor der Philosophie und der Medizin, S S-Hauptsturmführer Josef Mengele, kennen, als dieser dem Institut einen Besuch abstattete. Er war schon in Frankfurt am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene ein Schüler von Verschuer gewesen und interessierte sich wie sein Lehrer für Zwillinge. Durch die Untersuchung von Zwillingen versuchte Mengele herauszufinden, welche Eigenschaften erblich waren und welche durch Lebensgewohnheiten und die Umgebung hervorgerufen wurden.
Ingrid erinnerte sich noch an den ersten Eindruck, den Mengele auf sie gemacht hatte: das hinreißend offene, jungenhafte Lächeln, das eine charaktervolle Lücke zwischen den Vorderzähnen freigab. Der Doktor küsste Ingrid mit charmanter Eleganz die Hand, und zwar genau so wie es sich gehörte: nur sein warmer Atem streifte leicht den Handrücken. Als Mengele hörte, dass Ingrid die Tochter von Anders Stormare war, bat er sie sehr höflich, ihrem Herrn Vater die herzlichsten Grüße zu bestellen.
Bestimmt gibt er in Gesellschaft eine glänzende Figur ab – Ingrid erinnerte sich, wie sie das damals mit geröteten Wangen gedacht hatte. Das Letzte, was ihr zu Doktor Mengele eingefallen wäre, war die später ans Tageslicht gedrungene Tatsache, dass er Menschen Organe und Gliedmaßen ohne Narkose entnommen |257| hatte, dass er absichtlich Bluttransfusionen mit falschen Blutgruppen vorgenommen hatte, dass er seine »Patienten« mit Chloroforminjektionen umgebracht hatte und dass er versucht hatte, die Farbpigmente der Augen zu verändern, indem er Kindern verschiedene Farbstoffe in die Augen gespritzt hatte. Die Experimente
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