Das Erbe des Bösen
Tatsache an die Öffentlichkeit gedrungen war, dass Männer, die von der amerikanischen
Rockefeller-Stiftung
finanziert worden waren, das Programm zur Beseitigung der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft geschaffen hatten. Hitler handelte anfangs nach den Empfehlungen jener Wissenschaftler, die in ihrem Fach als führend galten.
In Deutschland wurde 1933 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« verabschiedet, das auf dem Text einer Gesetzesvorlage des amerikanischen Eugenikers Harry Hamilton Laughlin beruhte und in mehreren Bundesstaaten der USA in Kraft war. Drei Jahrzehnte lang hatte Laughlin das Eugenikbüro in Cold Spring Harbor geleitet.
Am meisten hatte Ingrid vor dem auf Ernst Rüdins Vorstellungen basierenden Euthanasiebüro T4 geschaudert, das Ende 1938 seine Tätigkeit aufnahm. Die Abkürzung hatte mit der Bürozentrale der Einrichtung zu tun, die in einer Villa mit der Adresse Tiergarten 4 untergebracht war. Ingrid kannte die T4- Aktion genau, denn einer ihrer Kollegen am Institut für Rassenhygiene war als T 4-Arzt tätig gewesen, bis seine Nerven versagt hatten und er vom klinischen Betrieb in die wissenschaftliche Forschung versetzt wurde. Ingrid wunderte sich keineswegs über die Probleme ihres Kollegen, denn das erklärte Ziel der T 4-Ak tion bestand in der mit tödlichen Injektionen durchgeführten »Euthanasie« von Kindern, die von Geburt an taub, blind oder behindert waren oder an sonstigen »Mängeln« litten. 1939 wurden |260| dann auch Erwachsene in das T 4-Programm aufgenommen.
Von Verschuer erstellte zusammen mit seinem Assistenten Josef Mengele Gutachten für den Gerichtshof, der über die Rassenreinheit wachte. Diese Tätigkeit dehnte sich so weit aus, dass man für das Töten Gaskammern entwickelte, die Duschräumen nachempfunden waren. Der größte Teil der im Zuge des T 4-Pro gramms ermordeten 250 000 Menschen waren Kinder. Auch sah die Abteilung für Gehirnforschung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin-Buch hier die Chance, mit Hilfe des T 4-Programms an Gehirnmaterial für die Forschung in der neuropathologischen Abteilung zu gelangen.
Nach dem Krieg hatte Ingrid nur zufällig hier und da etwas über ihre ehemaligen Kollegen erfahren. Ihre unmittelbare Vorgesetzte hatte sich aus den wissenschaftlichen Kreisen zurückgezogen. Sie war Biologielehrerin geworden und 1997 im Alter von 97 Jahren gestorben. Ingrid hatte sich oft gefragt, warum von allen Berufsgruppen ausgerechnet die Ärzte die eifrigsten Nazis gewesen waren. Fast die Hälfte von ihnen waren Parteimitglieder gewesen. An zweiter Stelle waren die Juristen gekommen, aber von denen hatte nur ein Viertel das Parteibuch besessen.
Institutsleiter von Verschuer wurde im Zuge der Nürnberger Naziprozesse nicht vor Gericht gestellt, sondern musste lediglich als Sühne für sein Mitläufertum eine Strafe von sechshundert Mark zahlen. Er distanzierte sich von seinem alten Kameraden Mengele, und bei seiner Entnazifizierung sagte unter anderen der Blutspezialist Professor Butenandt zu seinen Gunsten aus. Von Verschuer machte nach dem Krieg keinen Hehl aus seinen Überzeugungen, stattdessen wurde er 1949 Mitglied der amerikanischen
Eugenics Society
. Zwei Jahre später erhielt er eine Professur für Genetik an der Universität Münster, wo er eines der größten Genforschungszentren Westdeutschlands gründete. In den Sechzigerjahren war er daran beteiligt, die Zeitschrift ›The Mankind Quarterly‹ ins Leben zu rufen, für die er aktiv Beiträge lieferte.
|261| Auch viele andere von Ingrids Kollegen am Institut für Eugenik wurden nach dem Krieg in Spitzenämter berufen, etwa an die Universitäten Münster, Düsseldorf, Frankfurt und Erlangen. Von Verschuer gab sein Wissen und seine Ansichten an die folgenden Generationen weiter, bis er 1969 bei einem Autounfall ums Leben kam. In den Nachrufen, die in wissenschaftlichen Fachorganen über ihn erschienen waren, hatte Ingrid keine Erwähnung seiner Nazivergangenheit gefunden. Die Gehirnpräparate, die im Zuge des T 4-Euthanasieprogramms gesammelt worden waren, hatten sich bis 1990 im Besitz des Max-Planck-Institutes befunden, bis sie auf einem Münchner Friedhof bestattet wurden.
Auch dies hier war in gewisser Weise ein Grab, dachte Ingrid, zumindest vorübergehend. Sie verteilte gleichmäßig die Erde über dem Sack und streute Laub darüber. Das Versteck taugte nicht viel, aber sie hatte jetzt nicht die Nerven, um sich einen besseren Ort zu überlegen.
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