Das Erbe des Greifen
fuhr der alte Mann fort, nicht ohne seinen Neffen zuvor noch mit einem ironischen Seitenblick bedacht zu haben, »stand dem Grafen Lindor, nachdem er beim Kanzler vorstellig geworden war, noch ein weiterer schwerer Gang bevor.«
»Gab es etwa noch jemanden, der ihm den Kopf abschlagen lassen wollte?«, feixte Lamar, doch der alte Mann schüttelte nur ernst den Kopf. »Nein, so war es nicht.«
Der Prinz von Thyrmantor
Graf Lindor musterte Nestroks Auge sorgfältig. Auch wenn die Heilungskräfte des Drachen außergewöhnlich waren, hatte Lindor den Pfeil, der in ihm steckte, dennoch herausschneiden müssen, weil das Auge zu sehr geeitert hatte. Nestrok blinzelte mit seinem äußeren und seinem inneren Augenlid.
Du bist zu nah, das stört mich, beschwerte sich der Drache mit einem leicht beleidigten Unterton. Bislang hatte Nestrok noch immer nicht zugegeben, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, den Pfeil aus dem Auge zu entfernen.
»Lass mich einfach nur kurz nachschauen«, antwortete Lindor erheitert und untersuchte das Auge des Drachen, in dem nur noch ein leicht gekräuselter Schnitt zu sehen und das bereits wesentlich klarer war als zwei Tage zuvor. Wieder blinzelte der Drache mit dem inneren Augenlid, und Lindor vermutete, das es genau diese Bewegung war, durch die der Wundschorf langsam wegpoliert wurde.
Ich kann fliegen. Kämpfen auch.
»Ich weiß«, sagte Lindor. Er zog seinen Dolch, hebelte damit eine bereits abgestorbene Schuppe ab, die sich schon zum größten Teil gelöst hatte, und steckte sie ein. Dann trat er zurück.
Nestroks Nest befand sich hinter dem Arsenal der Königsburg, und es hatte dem Drachen offensichtlich gut getan, sich ein, zwei Kerzen lang erholen zu können. Fast ständig scheuerte er sich im Sand, den er mit seinem Feuerodem heiß hielt, so dass seine Schuppen wieder frisch poliert glänzten.
Etwas abseits des Nestes stand ein großer, viereckiger offener Käfig, dessen Boden blutig und aufgewühlt war. Eine abgerissene Kette hing lose von einer der Querstreben, eine andere führte zum Hals einer jungen Frau, die zusammengekauert in einer Ecke saß und zitterte, während sie mit ihrem Oberkörper beständig vor und zurück wippte.
Was ist mir ihr?, fragte Lindor lautlos, als er einen Schritt von dem Drachen zurücktrat.
Ich mag ihren Geschmack nicht. Rinder besser. Nestroks massiver Kopf schwenkte langsam zu Lindor hinüber. Ich höre ihre Gedanken. Rinder denken nicht. Ich will Rinder.
Sein mächtige Maul öffnete sich, und Lindor hielt unwillkürlich die Luft an, als ihm eine Woge fauliger Luft daraus entgegenschlug.
»Belior hat sie zum Tode verurteilt«, murmelte Lindor mit einem Blick auf die junge Frau.
Sie ist schuldlos. Ich bin kein Henker.
»Dann wird er sie den Kronoks übergeben«, meinte Lindor.
Wenn du sie tötest, werde ich sie fressen. Aber Rinder besser. Denken nicht.
Nestrok hob seinen Kopf an und blickte zur Königsburg hinüber.
Belior.
»Ich weiß«, bestätigte Lindor leise. Er sah die Frau an. Griff an seinen Dolch und ließ die Hand wieder sinken.
Du willst auch kein Henker sein.
Wir werden sie nachher mitnehmen und lassen sie laufen, entschied Lindor. Aber zuerst treffe ich mich noch mit dem Prinzen. Soll ich ihm etwas ausrichten?
Wenn er König wird, soll er mir Rinder geben.
Der Graf lachte leise, doch sein Amüsement verflog schnell.
»Ich werde es ihm ausrichten«, sagte er zum Abschied und ging dann schnellen Schrittes davon.
Ein schweres Tor war der einzige Zugang zu Nestroks Nest. Zwei Soldaten mit schweren Armbrüsten bewachten es, doch ihr Dienst schien sie nicht sehr glücklich zu machen, denn immer wieder warfen sie ängstliche Blicke zu dem Drachen hinüber, während Lindor das massive Gittertor hinter sich zu zog. Der Graf hielt zwei Goldstücke hoch. »Besorgt ihm eine fette Kuh. Ihr braucht sie nur durch dieses Tor zu treiben, es ist nicht nötig, selbst hineinzugehen. Er kümmert sich dann schon um sie. Der Rest ist für euch.« Er schaute ein letztes Mal zu Nestrok zurück.
Zwei.
Der Graf seufzte und zog eine weitere Goldmünze heraus. »Zwei fette Kühe. Oder Ochsen. Wie ihr das bewerkstelligt, ist mir egal.«
Zögernd nahm einer der Soldaten das Gold entgegen.
»So wird es geschehen«, bestätigte er dann. »Warum frisst er die Frau nicht?«
»Weil wir sie mitnehmen werden. Als Reiseproviant. Sie reicht ihm nicht, er ist hungrig«, beschied Lindor mit einem harten Lächeln. Worauf der Mann etwas
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